Lokführer in neun Monaten

Auf einer meiner letzten Fahrten mit meinem ersten Fahrzeugtyp.


Früh übt sich…

Wie ihr aus dem vorhergehenden Blogbeitrag bereits wisst, wollte ich Lokführer werden. Mich haben Eisenbahnen schon immer interessiert. Als Junge war ich so begeistert, dass ich sämtliche Lokomotiven-Baureihen auswendig kannte. Und die Bestellnummern im Märklin-Katalog. Auf unserer Modelleisenbahn ließen wir die Züge so schnell rasen, bis sie aus den Kurven kippten😃 Auch später haben mich stillgelegte und historische Strecken so sehr fasziniert, dass ich einige davon selbst „erforscht“ habe.

Der einzige Kehrtunnel in Deutschland und der einzige in Europa in einem Mittelgebirge😲Genau in der Mitte hat er einen Hohlraum mit einer mysteriösen Inschrift…

Nun schossen sich ja die SBB lieber selbst ins Knie, als mich mit Kusshand zu nehmen. Aber so schnell gab ich nicht auf: Die Deutsche Bahn war nicht nur schlauer, sondern auch schneller. Während die Schweizer mit dem typisch bernerischen Tempo vier bis sechs Monate für das Einstellungsprozedere brauchen, hatte ich zwei Wochen nach meiner Rückkehr von der AIDAnova das Vorstellungsgespräch samt sofortiger Zusage, und weitere zwei Wochen später ging es bei DB Regio Südbaden auch schon los😊 Dass ich Jahre und Jahrzehnte später zur Eisenbahn kam, war etwa so, wie wenn ich eine alte Liebe wieder getroffen hätte😉 Nur dass die noch immer gleichen 260er-Rangierlokomotiven inzwischen 360 hießen, hat mich ziemlich verwirrt🤔

Auch als Lokführer-Quereinsteiger kann man einiges erleben. Fast so viel wie auf einem Kreuzfahrtschiff😉


Träumer gesucht

Lokführer gilt zwar als Traumberuf, trotzdem werden sie auch in Deutschland händeringend gesucht, siehe https://www.n-tv.de/wirtschaft/Lokfuehrer-verzweifelt-gesucht-article21116573.html. Das hat mehrere Gründe:

  • Der gemeine deutsche Angestellte arbeitet am liebsten von Montag bis Freitag …
  • … und von 9.00 Uhr bis 17.00 Uhr.
  • Sämtliche Eisenbahnunternehmen haben unter Kostendruck zu wenig Lokführer ausgebildet.
  • Viele altgediente Kollegen gehen in Rente.
  • Andere wechseln zur Konkurrenz (Abellio, Go-Ahead, Metronom, TransDev, …), in andere Konzerngesellschaften (Cargo, Fernverkehr) oder wandern in die Schweiz ab.
  • Eine eigene Lehre gibt es nicht. Die dreijährige Ausbildung für Schulabgänger nennt sich „Eisenbahner im Betriebsdienst“ (EiB). Und die steht in hartem Wettbewerb zu anderen Berufen. Also auch von dieser Seite her kaum Nachwuchs.
  • Die Hemmschwelle zur Krankmeldung ist bei vielen aktiven Lokführern sehr niedrig. Manchmal reicht dafür bereits eine unbeliebte Schicht im Dienstplan😉 Der durchschnittliche Lokführer fehlt an 25 Arbeitstagen pro Jahr😲

So viele neue Quereinsteiger kann die Bahn gar nicht ausbilden, um die Lücken zu füllen. Deshalb werden die größten Löcher zuerst gestopft, d.h. die „unwichtigeren“ Züge fallen zuerst aus. Um gegenzusteuern, gab es kürzlich zusätzlich zum Tariflohn einen Bonus von 125 €, wenn man auf seinen Ruhetag ohne Ersatz verzichtet hat. Ich hoffe, die Aktion wird wiederholt😉


Win-win-Situation – mit kleinem Haken

Um den Bedarf zu decken, musste die Bahn notgedrungen eine Funktionsausbildung auf die Beine stellen. Die nennt sich „Quereinstieg“ und dauert neuneinhalb Monate. Und weil die Zielgruppe bereits mitten im Leben steht und oft auch eine Familie füttern muss, lässt die sich nicht mit einem Lehrlingslohn abspeisen. Der Bruttolohn während der Ausbildung beträgt 2.548 €. Ich meine, wo wird man dafür bezahlt, dass man etwas lernen darf?😎

Mit allem Drum und Dran kostet die Ausbildung eines Quereinsteigers die Bahn 33.000 €. Sie will diese Investition natürlich nicht in den Schotter setzen. Deshalb muss man sich nach Ausbildungsabschluss für zwei Jahre verpflichten. Falls man gleich nach Ausbildungsende kündigt, muss man die Hälfte der Kosten zurückzahlen, nach einem Jahr noch ein Viertel. Das leuchtet ein. Besonders interessant fand ich die Klausel, wonach auch derjenige zur Rückzahlung verpflichtet ist, der die Prüfungen aus eigenem Verschulden nicht besteht😉 Also mal eben den Ausbildungslohn mitnehmen und sich einen faulen Lenz machen ist nicht.


Nur die Besten

Natürlich nimmt die Bahn nicht jeden. Die Anforderungen:

  • Mindestalter 21
  • Ein mittlerer oder höherer Bildungsabschluss
  • Eine abgeschlossene Ausbildung
  • Technisches Verständnis
  • Bestehen der psychologischen Tauglichkeitsuntersuchung
  • Bestehen der medizinischen Tauglichkeitsuntersuchung
  • Bereitschaft zur Wochenend- und Schichtarbeit

Was man vorher gemacht hat, spielt keine Rolle. Es gibt Metzger, Buchhändler, Paketzusteller, Verkäufer, Geld- und Werttransportfahrer, Bundeswehrsoldaten, Pfarrer und Kameramänner. Einer soll sogar Bänker in der Schweiz gewesen sein. Aber das halte ich für ein Gerücht😉 Nur Busfahrer stoßen auf Vorbehalte, weil diese die Anforderungen unterschätzen würden. 50% aller Bewerber fallen durch😲

Getestet werden Reaktionsgeschwindigkeit, Dauerkonzentration, Multitasking, Kurzzeitgedächtnis und Mustererkennung. Alles unter Zeitdruck. Laut der Psychologin hätte ich alles gut bis sehr gut bestanden, und auch nach ihren Fragen (z.B. „Wie gehen Sie mit Verantwortung um?“) hatte sie keine Einwendungen.

Dann Seh- und Hörtest, Blutabnahme, Urintest, EKG, Stethoskop, und Gespräch mit der Ärztin. Die empfahl mir, einen Kardiologen aufzusuchen, weil sie leichte Herzrhythmusstörungen festgestellt hatte. Nun befürchtete sie, ich könnte im Führerstand einen Herzinfarkt erleiden und den Zug entgleisen lassen. Der Grund lag glücklicherweise nur in einer etwas stressigen Anreise zur Untersuchung. Nach einer vertieften Abklärung auch von dieser Seite her grünes Licht.

Einschließlich meines Lehrgangs wurden in Freiburg 45 neue Lokführer ausgebildet. Das war Höchststand. Alle drei Monate beginnt ein neuer Lehrgang. Wir waren anfänglich zwölf Teilnehmer. Einer schied aus überwiegend privaten Gründen aus. Dafür stießen vier aus früheren Lehrgängen hinzu, wovon einer allerdings aus medizinischen Gründen erneut abbrechen musste. Lauter Männer. Der jüngste war 26, der älteste 54. Rund die Hälfte hatte einen Migrationshintergrund. Als mein Ausbilder erfuhr, dass ich aus der Schweiz kam, fragte er: „Was hast du dort gemacht? Entwicklungshilfe geleistet?“😃 Und dabei kannte er meinen Beitrag „Milchmädchen im Management“ noch gar nicht😉


Grau ist alle Theorie

Wenn man bedenkt, wie teuer die Ausbildung für die Bahn ist, und wie dringend sie unsereins benötigt, wird klar, dass die neun Monate Ausbildungsdauer sehr knapp bemessen sind. Zuerst waren drei Monate Theorie angesagt: Signale, Bremsen, Elektrotechnik, Druckluft, Aufbau der Fahrzeuge, Oberleitung, betriebliche Vorschriften, Sichern von Fahrzeugen, Fahren auf dem Gegengleis, Störungen, Sperrfahrten, Nachschieben, Doppeltraktion, Bahnübergänge, Umleiten von Zügen, Zugfunk, Rangieren, Wartung und Instandhaltung, Bord- und Übergabebuch, Fundsachen, punktförmige Zugbeeinflussung, Verhalten bei Unfällen, Zugfahrten mit besonderem Auftrag usw.

Insofern ist „Lernen dürfen“ etwas untertrieben. Ich bin regelmäßig nach dem Unterricht im Kursraum geblieben und habe den Stoff auf Karteikärtchen zusammengefasst, die ich wieder und wieder gelernt habe. Da musste der Baggersee trotz schönstem Sommerwetter warten☹

Es gibt unglaublich viele Regeln und Vorschriften. Die meisten sind glücklicherweise nachvollziehbar, vor allem, wenn es um die Sicherheit geht. Aber nicht alle. Immer, wenn ich nach dem Sinn einer unlogischen Bestimmung gefragt habe, hat unser Ausbilder mit „Das ist historisch so gewachsen.“ geantwortet😉 Und historisch ist bei uns ziemlich viel. Das beginnt bereits bei der gründlich formalisierten Sprache (z.B. Führerbremsventil, Zugkraftsteller, Leuchtdrucktaster, Bremsstellungswechsel, Fahrgasthaltewunscheinrichtung, Ausfahrtschrankenöffnungsschalter, Luftpresser, Automatikhilfseinschalttaste…) und bei schriftlichen Befehlen, die in Papierform zum Führerstand gebracht werden, noch lange nicht. Angewandte Eisenbahngeschichte, sozusagen😃

Zwischendurch gab es immer mal wieder Praxistage. Das heißt, wir durften unter der Aufsicht unseres Ausbilders selbst fahren. Weil eigene Übungszüge Geld kosten würden und die Bahn keines hat, waren es fahrplanmäßige Züge. Ich erinnere mich noch, wie mir das Adrenalin ins Blut schoss, als ich zum ersten Mal den Fahrhebel nach vorne legte. Man muss sich auf mehrere Dinge gleichzeitig konzentrieren: den Fahrplan, die Kilometertafeln, die Uhrzeit, die Geschwindigkeit, die Sicherheitsfahrschaltung… Zurück auf dem Bahnsteig hatte ich weiche Knie.

Vier Quereinsteiger, ein Ausbilder und ein Planlokführer macht sechs Personen im Führerstand. Das ist nicht nur kuschlig, sondern erschwert auch die Konzentration, wenn der Ausbilder am Handy redet und die Kollegen sich lautstark Witze erzählen. Und zwar vorzugsweise unanständige😉


Keine Simulanten bitte

Unsere dreimonatige „Druckbetankung“ mit Theorie war immer wieder aufgelockert durch Übungsfahrten an unserem kleinen Pultsimulator. Wer wollte, konnte dank einem Programm auf einem USB-Stick auch zu Hause am PC üben. Beides gab uns einen kleinen Vorgeschmack darauf, was uns im „richtigen“ Simulator in Karlsruhe erwarten würde. Meine Kollegen hatten mich bereits vorgewarnt, dass man im schlimmsten Fall allein im Führerstand sitzt und weder aus noch ein weiß. Ganz so schlimm kam es bei mir nicht. Aber ich machte nicht weniger als acht Fehler. Meinen Kollegen ging es nicht viel anders☹ Wie im richtigen Leben versuchte der Trainer, der den Fahrdienstleiter spielte, uns immer wieder auf falsche Fährten zu locken. Einige Kollegen sind mit tief hängenden Köpfen herausgekommen und spielten mit dem Gedanken, in ihre früheren Berufe zurückzukehren. Auch mir erschien ein neuer Vertrag bei AIDA plötzlich wieder ziemlich verlockend😉

Viel Raum für Fehler😉

Einige Monate später waren wir ein zweites Mal auf dem Simulator. Da lief es schon wesentlich glatter. Diesmal funktionierte (leider) auch die Bewegungshydraulik. Sie sollte die Längs- und Querbeschleunigungskräfte der Lokomotive simulieren. Das tat sie allerdings so stark und unnatürlich, dass es mich eher an eine dieser simulierten Achterbahnen erinnerte, die man in Vergnügungsparks findet☹

A propos: Unsere IRE’s mit Dieseltriebzügen der Baureihe 612, mit denen wir nach Friedrichshafen fahren, verfügen über Neigetechnik. Wenn sie funktioniert, legen sich die Fahrzeuge mit bis zu 160 Sachen wie ein Motorrad in die Kurve. Um immer mal wieder ohne Übergang in einen kohlrabenschwarzen Tunnel hineinzufahren. Das ist wie Achter- und Geisterbahn in einem😉


Künstlerpech…

Der praktische Ausbildungsteil bestand aus Baureihenschulung, Wagentechnik, Bremsprobe, Loktechnik und natürlich Fahren. Selbstredend klappt gerade am Anfang nicht alles. Der „Klassiker“ sind Zwangsbremsungen. Das heißt, der Zug bremst automatisch, weil eines der Zugsicherungssysteme denkt, dass etwas nicht in Ordnung sei. Entweder weil man die Sicherheitsfahrschaltung nicht betätigt, zu schnell beschleunigt oder zu langsam gebremst hat oder die „Wachsam“-Taste nicht betätigt hat. Eine große Erleichterung ist die linienförmige Zugbeeinflussung (LZB). Sie zeigt an, ab wo man welche Geschwindigkeit haben muss.

Der Preis dafür ist, dass sie ständig tutet. In zwei von drei Fällen unnötigerweise. Eigentlich sollte sie das nur tun, wenn die Zielgeschwindigkeit zurückgeht. Oft genug zeigt sie nach der Abfahrt, etwa aus Riegel-Malterdingen Richtung Norden, zuerst 0 km/h in 4 km Entfernung („Tuuut!“), dann 60 km/h (ohne „Tuuut!“), dann wieder 0 km/h („Tuuut!“) und erst dann die üblichen 160 km/h. Und zwar völlig unabhängig von der aktuellen Verkehrslage. Als Folge davon stumpft man ab und hört gar nicht mehr hin, wenn sie mal zu Recht tutet☹ Umso größer die Wohltat, als die Tuuut- und Sprachausgabe auf einem Zug mal ausgefallen war😉

Ich fahre 90 km/h, darf an dieser Stelle 110 km/h schnell sein, muss aber in 3,4 km anhalten, wenn der Fahrdienstleiter den Abschnitt nicht vorher freigibt. Eigentlich ganz einfach…

Als ich in Gundelfingen Steuerwagen voraus vom Bahnsteig anfahren wollte, brachte die Lok fast keine Leistung mehr. Die Ursache war rasch gefunden: Ich hatte irrtümlich den Bremssteller der elektrischen Bremse nicht ausgelöst, als ich losfahren wollte. So ein Elektromotor kann entweder antreiben oder bremsen, aber nicht beides gleichzeitig. Das brachte die Lok gründlich durcheinander. Der Zug kroch nur noch im Schneckentempo. Nach einigen Minuten hatten wir immerhin 40 km/h erreicht. In Denzlingen leitete mich der Fahrdienstleiter auf ein Ausweichgleis. Was ihm nicht viel nützte, weil der letzte Wagen hinten über die Weiche hinausstand und sich der ganze Verkehr hinter mir staute☹ Er wies mich an, den Zug vorzuziehen. Dazu musste ich die Türen schließen. Mein Lokführerkollege war hinten bei der Lok, dachte, ich wollte ohne ihn abfahren, und rannte auf dem Bahnsteig wieder nach vorn😉 Zuletzt hatten wir eine halbe Stunde Verspätung, so dass die Transportleitung uns anwies, gar nicht mehr bis Offenburg zu fahren, sondern den Zug bereits in Lahr zu wenden. Das Display in der Lok zeigte seitenlange Fehlermeldungen an😲

Meine Fahrt von Seebrugg nach Freiburg war fast perfekt und sogar pünktlich, außer dass das Fahrgast-Informations-System (FIS) ausgefallen war. Also habe ich die Bahnhöfe und die Ausstiegsseiten durch das Mikrofon durchgegeben. Kurz vor dem Endbahnhof: „Unser nächster Halt ist Freiburg im Breisgau. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Unsere Fahrt endet dort. DB Regio bedankt sich für Ihre Fahrt mit der Schwarzwaldbahn.“ Zu den Kollegen: „Wie hieß nochmal unsere Bahn?“ – „Ich korrigiere: mit der Höllentalbahn.“ Es war die Dreiseenbahn😃 Immerhin fährt auch die durch das Höllental.

Eines Tages fuhr ich einen Zug, dessen FIS weder unsere Zugnummern noch die Zugziel-ID’s kannte. Meine Kollegen hatten deswegen auf einer Serviette und auf dem Zugdatenzettel für jede Fahrtrichtung besondere Zugnummern notiert, die ich noch nie gesehen hatte. Nachdem ich sie eingegeben hatte und losgefahren war, ertönte zu meiner Überraschung erstmals eine weibliche Stimme. Die Fahrten fanden zwischen Basel und Offenburg statt. Die Dame sagte auch die meisten Halte richtig an und bedankte sich am Schluss für die Fahrt auf welcher Bahn? Der Schwarzwaldbahn. Dabei waren wir auf der Rheintalbahn unterwegs😃


In die Eisen gehen

Wenn man bedenkt, dass bei einem Zug mit seinen hohen Gewichten und niedrigen Rollwiderständen das Bremsen das Wichtigste ist, müssen die dafür vorgesehenen Einrichtungen vor jeder Zugfahrt überprüft werden. Deshalb mussten wir alle eine Prüfung zum „Bremsprobenberechtigten“ ablegen. Etwas vereinfacht gesagt prüft man dabei, ob alle Bremsen ordnungsgemäß anlegen und wieder lösen.

Einen fahrenden Zug anzuhalten ist etwas ganz Anderes als ein Auto. Der Regelbremsweg beträgt nicht umsonst 1.000 m, und selbst das ist bei 160 km/h sehr kurz. Die Berechnung, wieviel kinetische Energie ein 380 t schwerer Zug bei dieser Geschwindigkeit hat, überlasse ich euch😉 (Richtig, es sind 375,3 MJ! Anders ausgedrückt 104,25 kWh.) Eines meiner eindrücklichsten Erlebnisse war immer wieder, wenn ich in Lahr pünktlich loskam, auf 140 km/h beschleunigte, die Leistung abschaltete und in Friesenheim nicht hielt. Der Zug rollte und rollte. 15 km weiter, kurz vor Offenburg, hatte er immer noch mehr als 100 km/h drauf. Ich musste ihn auf 80 km/h abbremsen und kam immer noch pünktlich an.

Bei den lokbespannten Zügen dauert es eine ganze Weile, bis die Bremsen anlegen, und noch einmal so lange, bis sie wieder auslösen. Das heißt, man muss sie bereits wieder bei 20-30 km/h wieder lösen, lange bevor der Zug steht. Das läuft der Intuition zuwider. Tut man es nicht, kommt der Zug mit einem kräftigen Ruck zum Stehen, so dass den Fahrgästen das Gepäck aus den Ablagen auf die Köpfe fällt. Deshalb heißen diese abrupten Stopps auch „Koffer“. Für die Steilstrecke auf der Höllentalbahn mit 57%o Gefälle gelten besonders strenge Regeln. Und zwar deshalb, weil man einen Zug, der mit über 80 km/h talwärts rast, nicht mehr einfangen kann😲

Unsere lokbespannten Züge haben vier, teilweise sogar fünf unterschiedliche Bremssysteme:

  • Für Betriebsbremsungen gibt es die indirekte Druckluftbremse. Sie wirkt auf alle Achsen, also auch auf diejenigen der Wagen. Für schlüpfrige, das heißt vor allem nasse Schienen gibt es zusätzlich noch eine Sandstreueinrichtung.
  • Ebenfalls für Betriebsbremsungen kann die E- oder dynamische Bremse eingesetzt werden. Bei ihr werden die Fahrmotoren der Elektroloks zu Generatoren umgepolt, mit denen die Bremsenergie zurückgewonnen und in das Stromnetz zurückgespeist wird. Unsere Dieseltriebzüge haben ebenfalls eine dynamische Bremse. Mit dem Unterschied, dass sie keinen Kraftstoff in den Tank zurückspeisen😉
  • Die direkte Druckluftbremse ist nur zum kurzzeitigen Sichern stehender Züge gedacht, vor allem während des Aus- und Einsteigens an den Bahnsteigen.
  • Die Lok hat zusätzlich eine Federspeicherbremse, mit der der Zug auch längere Zeit gesichert werden kann. Auch die Wagen besitzen manuelle Feststellbremsen.
  • Manchmal fuhren wir Wagen der Schwarzwaldbahn, die zusätzlich mit Magnetschienenbremsen ausgerüstet waren. Das heißt, bei Schnell-, Not- oder Zwangsbremsungen senken sich Elektromagnete auf die Schienen und „saugen“ sich an diesen fest. Sie lassen sich nicht dosieren und lösen deshalb von selbst wieder aus, wenn der Zug langsamer als 50 km/h fährt.


Mit Dank zurück

Die E-Bremse finde ich am interessantesten. Wir sollen sie benutzen wann immer möglich, weil wir grundsätzlich energiesparend fahren wollen. Beim Bremsen vor Halt zeigenden Signalen und auf schlüpfrigen Schienen allerdings nur in Kombination mit der indirekten Bremse, weil die dynamische ohne Vorwarnung ausfallen kann. Was dann passiert, glaubt keiner, der es nicht erlebt hat: Es fühlt sich an, als ob der hunderte Tonnen schwere Zug wie eine Kanonenkugel nach vorne schießt😲

Zweimal Basel-Freiburg und zurück (250 km). Schade, dass die Rekuperation auf der 146.2er-Lok „kastriert“ ist. Sonst hätte ich mehr zurückgespeist (gelber Wert) als verbraucht (blau)😉

Weil wir vor jeder Zugfahrt unsere Tf-Nummer in die Elektronische Fahrten-Registrierung eingeben, weiß unsere Leitstelle natürlich genau, wie wir gefahren sind. Wir werden regelmäßig bezüglich Energieeffizienz miteinander verglichen.


Die Kunst des Bremsens

Am Anfang ist das Bremsen das Schwierigste. Mehr als einmal kam ich zu früh am Bahnsteig zum Stehen, was peinlich ist, weil man vorziehen und den Fahrgästen über das Mikrofon durchsagen muss, dass sie noch nicht aussteigen sollen. Diejenigen, die einsteigen wollen, denken, der Zug würde ohne sie abfahren. Umgekehrt kann es leicht passieren, dass man mit der ersten Tür erst hinter dem Bahnsteig zum Stehen kommt, was gefährlich ist, so dass man absteigen und die Reisenden davon abhalten muss, dort auszusteigen. Auf meiner Strecke liegen Istein und auf dem Rückweg Rheinweiler in einer Linkskurve, so dass man den Zug nicht überblicken kann. Dort sind zwar Kameras und Bildschirme aufgestellt. Aber die nützen natürlich nur dann etwas, wenn man eine Punktlandung hinlegt. Ähnliches gilt für einige Haltepunkte mit sehr kurzen Bahnsteigen, die man mit fünf Wagen genau treffen muss, damit die Reisenden alle Türen benutzen können.

Bildschirme getroffen😊 Nützt nur nichts, wenn die Sonne draufscheint


Die Kollegen an der Spitze

Das letzte Drittel der Ausbildung bestand darin, ganze Schichten mit erfahrenen Kollegen zu fahren. Natürlich gibt es auch Kolleginnen. Leider nur wenige, dafür aber umso charmantere😊 Das Fahren unter Aufsicht klappte meistens sehr gut. Na ja, viele beamtete Kollegen aus der Bundesbahn-Zeit haben den Spardruck mitbekommen und beschweren sich ständig über alles Mögliche. Jammern auf hohem Niveau. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass sie nie in der freien Wirtschaft gearbeitet haben und sich keine Sorgen um die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes oder um ihre Pensionen machen müssen.

Für einen altgedienten Lokführer, der sich als Bediener einer Maschine sah, muss es ein Schock gewesen sein, dass er plötzlich keinen Zugführer mehr an Bord hatte, der ihm den Abfahrtauftrag erteilt hat, und er den Zug nun selbst abfertigen musste. Ähnliches gilt für die Durchsagen an die Fahrgäste und für den Zugabschluss nach der letzten Fahrt. Mancher Streckenlokführer (mit drei Streifen auf der Schulter) hielt es für unter seinem Niveau, seinen Zug vom Abstellgleis zu holen oder in die Abstellung zu rangieren, weil das ursprünglich die Aufgabe der nur doppelt gestreiften Rangierlokführer war. Und ich bin beinahe der Einzige, der die ungeliebte Innenreinigung macht.

Manche Kollegen rauchen auf dem Führerstand. Andere wollten lieber selbst fahren, als es mich tun zu lassen, weil sie befürchteten, ich würde eine Verspätung einfahren, und sie kämen später in die Pause oder in den Feierabend. Einige Kollegen regen sich über jedes rote Signal fürchterlich auf. Ich verstehe das nicht, weil wir ohnehin nichts tun können außer warten. Nach meinen ersten ganzen Schichten spürte ich abends im Bett vor dem Einschlafen noch die Längs- und Querbeschleunigungskräfte.

Mit unseren langsamen Regio-Zügen fahren wir zwischen Basel und Freiburg die alte Strecke um den Isteiner Klotz, wo die Geschwindigkeit teilweise auf 70 km/h begrenzt ist. Um diesen Flaschenhals zu entlasten, wurde für ICE‘s und Güterzüge vor einigen Jahren der 9 km lange Katzenbergtunnel gebaut. Ich fuhr zweimal im Führerstand eines ICE’s mit durch. Der erste war ein 28 Jahre alter ICE 1, der bereits 10 Mio. km gelaufen war. Der Lokführer schwor darauf. Und das trotz des Lärms im Führerstand und einer Antriebsstörung. Mir gefiel der brandneue ICE 4 besser. Obwohl er an diesem Tag ebenfalls eine Störung hatte. Warum sollte es dem Fernverkehr besser ergehen als uns?😉 Jener Lokführer war in Frankfurt stationiert und erzählte mir, dort würden die Kollegen vom Fernverkehr zu Regio wechseln. Bei DB Regio Südbaden ist es umgekehrt. Andererseits haben die neuen ICE’s, genau wie auch unsere Mireos, für den Lokführer nach vorne eher Gucklöcher als Fenster. Dabei ist der Panoramablick auf die Landschaft einer der schönsten Aspekte unseres Berufes😉

Natürlich gibt es solche und solche Kollegen. Einer fragte, was wir alles dürften und was nicht, und rief deswegen sogar die Leitstelle an. Die sagte ihm, dass das auf unseren Unterlagen stände. Als ich ein zweites Mal mit ihm fahren sollte, simste er mir, dass er lieber alleine fahren würde. Über Umwege erfuhr ich den Grund: Weil ich seine Anweisungen missachten würde. Nun hat jeder Lokführer seinen eigenen Fahr- und natürlich auch Bremsstil, und er war mit meinem nicht einverstanden. Dafür musste er den Abschlussdienst diesmal selbst übernehmen, erreichte den Zug vor seinem Schichtende nicht mehr und kam so eine Stunde später nach Hause😉 Später erfuhr ich, dass er überhaupt niemanden mehr fahren lassen würde. Offenbar gibt es noch mehr Quereinsteiger, die anders bremsen als er😉

Passenderweise am Freitag, dem 13. übernahm ein Kollege aus Offenburg übernahm meinen Zug in Basel. Wegen eines Personenunfalls im Hauptbahnhof Freiburg kam sein Zug mit 15 Minuten Verspätung in Basel an. Er wollte mich nicht fahren lassen, vielleicht weil er die Verspätung aufholen wollte, was aber auf dieser Strecke ohnehin unmöglich ist. In Freiburg meinte er, ich solle einen anderen Zug fahren, während ich meinen Dienstplan für verbindlich hielt. Er drohte mir, den Zug stehenzulassen, wenn ich den Führerstand nicht verließe. Also fuhr ich im Fahrgastraum mit und rief meinen Ausbilder an, der mit dem Lokführer reden wollte. Er sagte ihm, ich sei in Basel frech gewesen (weil ich hätte fahren wollen), und regte sich in Offenburg noch mehr auf, weil ich ihm das Handy in den Führerstand gereicht hatte. Ich wollte mich entschuldigen, aber jetzt warf er mir vor, ich sei aufdringlich… Da war nichts mehr zu machen. Außer mich bei der Leitstelle schriftlich über ihn zu beschweren. Sein Verhalten war nicht nur unkollegial, sondern auch asozial. Ich hoffe, ein Exemplar wandert in seine Personalakte.

Es gab aber auch das Gegenteil. Ein Kollege zeichnet sich durch seinen Humor aus. Als ich ihm sagte, dass an einem Haltepunkt zwei Fahrgäste ausgestiegen seien, antwortete er: „Dann müssen noch zwei einsteigen, damit wir wieder bei null sind.“😊 Am Schluss unseres absoluten Katastrophentags, der mit 72 Minuten Verspätung endete, stank es in einem Wagen nach Erbrochenem. Er: „Da fand wohl jemand deine Zugfahrt zum Kotzen!“😃


Zugausfall auf Knopfdruck

Der beste Kumpel, den man sich vorstellen kann, stand mir auf dem absoluten Tiefpunkt meiner Ausbildung bei: Durch mein Verschulden fiel ein ganzer Zug aus😲 Nach der Wende in Karlsruhe gingen die Türen plötzlich nicht mehr zu. Sie waren zwar geschlossen, aber der Leuchtmelder wollte und wollte nicht aufhören zu blinken, so dass wir auch nicht losfahren konnten. Nach 20 Minuten schickten wir die Fahrgäste auf den nächsten Zug, der zehn Minuten später fuhr. Dann kam mein Kollege darauf, dass im Steuerwagen (der am Zugende war) etwas nicht stimmen konnte. Da war ein kleiner unscheinbarer Schalter verstellt. Ich hatte alles möglichst gut machen und alle Schalter in Grundstellung bringen wollen. Die ist bei demjenigen für die Türsteuerung aber schräg und nicht gerade☹ Als Folge musste die Bahn meinetwegen ein Pönale (eine Strafzahlung) in fünfstelliger Höhe ans Land bezahlen☹ Mein Kollege machte mir nicht nur keinen Vorwurf, sondern nahm sogar noch die Schuld auf sich!😊

Hände weg, sonst passiert was😲


Die Stunde(n) der Wahrheit

Die Abschlussprüfung bestand aus fünf Teilen. Der erste nannte sich Standprüfung. Eigentlich dachten wir, es ginge darum, die Lok auf- und abzurüsten. Gefragt wurde aber viel mehr, und das meiste hatte unser Praxisausbilder gar nicht mit unserer Vierergruppe durchgenommen. Diesmal fielen drei durch, davon zwei aus meiner Gruppe. Sie bekamen eine Nachschulung und eine Nachprüfung. Ich habe bestanden, aber mit mehr Glück als Verstand: Weil ich als Letzter dran war, hatten mich die Kollegen informiert.

Der zweite war die schriftliche Prüfung. Ich habe 95% erreicht. Durchgefallen😲 Nicht weil man alles hätte richtig haben müssen, im Gegenteil: 70% der maximalen Punktzahl würden reichen. Aber man muss sämtliche BG-Fragen richtig haben. Die beiden Buchstaben stehen für „Betriebsgefahr“. Und da hatte ich gleich zwei falsch. Mit mir sechs andere von 13, die angetreten waren.

Wir bekamen eine Nachschulung, die so aussah, dass wir die Nachprüfung besprochen haben. Ich gab einige Minuten vor Ende ab. Der Prüfer schaute sich meine Arbeit an. Nachdem er alle eingesammelt hatte, bat er mich, in sein Büro mitzukommen. Und ich sollte meinen Kugelschreiber mitnehmen. Auf diesem Stand „SBB CFF FFS“, also der Name eines Konkurrenzunternehmens, und ich dachte, er wollte mich diesbezüglich zur Rede stellen. Aber weit gefehlt. Er sagte, ich solle mir meine Antwort auf die letzte Frage noch einmal durchlesen. Es ging darum, unter welchen Bedingungen und wie schnell man mit einem Zug vom hinteren Führerstand aus weiterfahren darf, wenn die Bedienung vom vorderen Führerstand aus wegen eines Defekts nicht möglich ist. Ich tat wie geheißen, kam aber nicht darauf, was er meinte. Ich wusste, dass der vordere Führerstand mit einem betrieblich ausgebildeten Mitarbeiter besetzt sein muss, und dass man nicht schneller als 50 km/h fahren darf. Aber das reichte nicht. Der besagte Mitarbeiter muss nämlich den Zug auch zum Halten bringen können. Das hatten wir zwar drei Tage zuvor besprochen, und ich hatte es sogar notiert, aber mir nicht gemerkt, weil es mir nicht einleuchtete. Erstens dachte ich, dass jeder betrieblich ausgebildete Mitarbeiter einen Zug bremsen könne, und dass das zweitens von einem nicht funktionierenden Führerstand aus gar nicht möglich sei, aber ich lag beide Male falsch. Der Prüfer wollte mich deswegen nicht auch noch ein zweites Mal nachschreiben lassen und gab mir deshalb die Gelegenheit, die fehlende Information vor der Korrektur noch nachzutragen. Deshalb der Kugelschreiber. Ich schloss daraus, dass ich nicht der Erste war, dem dieses Glück widerfuhr😉 So hatte ich 97% richtig. Andererseits gab es tatsächlich auch Fälle von Quereinsteigern, die alle drei schriftlichen Prüfungsversuche vermasselt haben und die jetzt Fahrkarten kontrollieren. Da würde ich lieber auf einem Kreuzfahrtschiff arbeiten😉

Der dritte Teil war die mündliche Prüfung. Mit 100% bestanden😊 Und diesmal musste der Ausbildungsverantwortliche nicht viel „nachhelfen“. Ein Kollege war durchgefallen, weil er zwei Signaltafeln verwechselt hatte.

Der vierte Teil war die praktische Prüfungsfahrt. Auf dem Streckenabschnitt Offenburg-Karlsruhe, wo wir mit der alten punktförmigen Linienzugbeeinflussung (PZB) fahren. Und zwar bis zu 160 km/h schnell, was bedeutet, dass man wie ein Luchs auf alles Orangefarbene (Langsamfahrsignale und Vorsignale, die „Halt erwarten“ anzeigen) achten muss, und wenn man etwas sieht, sofort mit Bremsen anfangen muss. Natürlich auch auf meiner Prüfungsfahrt. Dummerweise hatte ich die Bremse mal wieder zu spät ausgelöst, so dass ich sehr weit vor dem roten Hauptsignal zum Stehen kam. Am Bahnsteig in Rastatt dasselbe, so dass ich vorziehen musste. Und weil ich auf dem trägen Steuerwagen zu spät abgeschaltet hatte, beschleunigte er auf 162 Sachen statt wie maximal zulässig 160. Die letzteren beiden Schnitzer erwähnte der Prüfer in der anschließenden Manöverkritik nicht einmal. Immerhin habe ich bei der Wende in Karlsruhe diesmal keinen Fehler gemacht. Alle Kollegen sind durchgekommen😊

Nach der Abschlussprüfung musste ich noch eine Schulung für die LZB machen. Natürlich ebenfalls mit Prüfung. Nachdem der Prüfer die Bögen ausgeteilt hatte, sagte er, er würde sich jetzt einen Kaffee holen. Darauf einer meiner Kollegen: „Lass dir Zeit!“ Was er auch tat. Insofern wurde es eher eine Gruppenarbeit als eine Prüfung. Und bevor er die Bögen einsammelte, besprachen wir sie gleich noch einmal und konnten die falschen Antworten korrigieren😲 Kein Wunder haben alle bestanden😉

Als Lokführer kann man sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen. Gegen den „naturbedingten menschlichen Informationsverlust“ (DB-Jargon für vergessen) ist regelmäßiger Fortbildungsunterricht und Web-basiertes Training angesagt. Letzteres sieht bei einigen Kollegen so aus, dass ein Passwort und eine Kiste Bier den Besitzer wechseln😉


7 Zwerge – Männer allein im Wald

Natürlich gab es auch eine Abschlussfeier. Die fand Anfang März auf einer Hütte im Schwarzwald beim Kandel auf 780 m Höhe statt. Dort gab es fließend kaltes Wasser😉 Es schneite. Unten hatte es geregnet, und ich war 8 km geradelt. Entsprechend durchnässt war ich und wärmte mich lieber drin, nachdem der Holzofen endlich warm war. Das hielt uns nicht davon ab, draußen zu grillen. Die Tatsache, dass Lokführer eher Einzelgänger sind, zeigte sich darin, dass nur sieben von 13 Kollegen erschienen waren.

Der Anteil der Glatzenträger ist bemerkenswert😃

Zwei fuhren noch am Abend wieder nach Hause, einer, der eine Frühschicht gehabt hatte, legte sich auf eine Bank und schlief ein, und der harte Kern übernachtete im Massenlager. Einer davon war Whisky-Kenner und hatte einige Flaschen mitgebracht. Tröstlich, dass wir Lokführer alle wussten, wann wir mit dem Trinken aufhören mussten. Der Hüttenwart wusste es nicht, sondern sagte sogar, er hätte diesen Nebenjob deshalb, damit er jedes Wochenende saufen könne😲 Als wir am Morgen aufbrachen, schlief er noch.


Gut ausgerüstet

So ein Lokführer benötigt eine gewisse Ausrüstung. Die Bahn lässt sich da nicht lumpen und spendiert unsereinem:

  • Einen großen Rucksack mit vielen Fächern
  • Feste schwarze Lederstiefel, weil wir bisweilen auch auf Schotter gehen müssen
  • Eine orangene Warnweste
  • Eine rot abblendbare Taschenlampe
  • Verschiedene Schlüssel für die Meldestellen, die Fahrzeuge und die Schaltschränke in den Wagen
  • Ein Paar Handschuhe zum Kuppeln
  • Ein Diensthandy. Damit melden wir uns bei der Leitstelle zum Dienst und danach wieder ab. Über die App „RIS“ bekommen wir während der Zugfahrt aktuelle Mitteilungen.
  • Ein Diensttablet. Darüber bekommen wir unter anderem unsere Dienstpläne, das tagesaktuelle Verzeichnis der Langsamfahrstellen (La) und sonstige wichtige Informationen.
  • In Zeiten von Corona gab es für jeden Gesichtsmasken. Wer wollte, konnte sich auch bei den Latex-Handschuhen bedienen.
  • Unsere komplette Uniform, bestehend aus Hemden, Epauletten, Polohemden, Jeans, Weste, Krawatten und Lederjacke oder Parka, für die Damen auch Blusen, Röcke und Tüchlein. Als Lokführer sind wir nicht verpflichtet, Unternehmensbekleidung zu tragen, sondern „nur“ berechtigt. Im ersteren Fall hätte die Bahn uns Arbeitszeit geben müssen, um uns zweimal täglich umzuziehen, und das hätte gekostet. Trotzdem tragen die meisten Kollegen Uniform. Sie ist ja auch sehr schick😊 Und wie meinte einer: „Warum soll ich meine eigenen Klamotten schmutzig machen?“ Allerdings müssen wir natürlich unsere Dienstkleidung selbst waschen und bügeln. Am coolsten finde ich die Lokführermütze. Die könnte man durchaus als Teil der persönlichen Sicherheitsausrüstung betrachten, weil man sich an den niedrigen Führerstandstüren der 146er-Loks leicht den Kopf anschlägt☹ Und viele Kollegen sind noch größer als ich. Allerdings wird man in Uniform auf den Bahnsteigen natürlich häufiger von Fahrgästen angesprochen.
  • Nachdem ich mit dem Wunsch nach einer Signalpfeife vorstellig geworden war, wurde mir eine solche zugeteilt😊

Ein Streifen auf der Schulter: Kann lesen.
Zwei Streifen: Kann lesen und schreiben.
Drei Streifen: Kennt jemanden, der lesen und schreiben kann😃


Fahren ohne Stützräder

Nun waren ja das Büffeln anstrengend und die Prüfungen nervenaufreibend. Aber beides war noch gar nichts im Vergleich zur ersten Zeit als „richtiger“ Lokführer. Allein zu fahren ist etwas ganz Anderes als mit einem erfahrenen Kollegen, der die Verantwortung trägt. Es ist ziemlich einsam an der Spitze. Man lernt auf die harte Tour, was man während der Ausbildung verpasst oder danach wieder vergessen hat😉 Um es mal so zu sagen: Im kalten Wasser lernt man am schnellsten zu schwimmen😉 Die Verantwortung für hunderte von Fahrgästen, Millionen von Euro und Tonnen von Material lastete nun plötzlich auf meinen Schultern. Da wurde mir erst so richtig bewusst, wieviel Vertrauen mein Arbeitgeber in meinereinen setzt.

Vor meinem ersten eigenen Zug war ich ungefähr so aufgeregt wie vor meiner ersten eigenen Radtour mit Kreuzfahrtgästen😉 Ich hatte schlecht geschlafen. Meine Schicht ging denn auch mehr schlecht als recht🙁 Drei Zwangsbremsungen, davon zweimal wegen Rechnerabsturz😮 Beim ersten Mal rief ich unsere Hotline an, die mir telefonische Instruktionen zur Störungsabhilfe gab. Zwölf Minuten Verspätung. Beim zweiten Mal wusste ich, wie es ging, und brauchte nur noch acht Minuten. Beim dritten Mal war ich schuld, weil ich zu wenig schnell gebremst hatte, d.h. ich wurde mit 86 oder 87 km/h statt 85 km/h zwangsgebremst. Als ich das Hauptsignal erkennen konnte, war es bereits wieder grün, und bis die Bremse endlich wieder gelöst war, stand ich schon fast. Auf dem Rückweg musste ich in Lahr eine Rollstuhlfahrerin ganz hinten aus dem Zug ausladen, was aus diesem Uralt-Steuerwagen nicht ganz glatt ging. 6 Minuten Verspätung.

Die Fahrgäste konnten ja nicht ahnen, dass es sich um einen historischen Moment handelte😉Mein erster eigener Zug! Und dann stimmte die Anzeige noch nicht einmal: Der 17118 fuhr bis Karlsruhe.

Dann mein „Lieblingsjob“: Innenreinigung! Wenn der Dienstplan das so will, bin ich dazu verpflichtet. Das steht in meinem Arbeitsvertrag sogar im Fettdruck. Warum? Weil es kaum einer macht😃 Es geht darum, Zeitungen, Pappbecher, Aludosen und Bierflaschen einzusammeln. Weil ich immer das Positive sehe: Die Bezahlung für diese „niedere Arbeit“ ist gar nicht schlecht😉 Hinzu kommt ein steuerfreier Bonus in Höhe des Pfandwerts des gefundenen Leerguts😉 Unfair ist daran nur, dass unsere beamteten Kollegen nach einem höchstrichterlichen Urteil davon befreit sind, weil sie unseren Reinigern nicht die Arbeit wegnehmen dürften😲

Der „historische“ Dienstplan meiner ersten eigenen Schicht. Frau und man beachte die zehnminütige Aufgabe um 19.19 Uhr: IR1 = Innenreinigung.

Am zweiten Tag ging es schon besser. Zuerst in Basel den Zug aufrüsten und an den Bahnsteig rangieren, Fahrt nach Offenburg, dort abstellen, einen anderen Zug nach Freiburg fahren, Pause, wieder nach Offenburg, Zug übergeben, den abgestellten wieder an den Bahnsteig und von dort nach Basel fahren, den Zug aufs Abstellgleis rangieren, einen anderen vornedran fahren, beide zusammenkuppeln und an den Bahnsteig vorziehen. Wieder zwei Zwangsbremsungen. Eine davon auf der Rangierfahrt, so dass es niemand bemerkt hat. Und für die zweite konnte ich nichts: Kaum hatte ich die Verspätung durch ein rotes Signal aufgeholt, da fiel mal wieder die LZB aus. Und das 600 m vor dem Bahnsteig. Von den zwölf Minuten Verspätung konnte ich fünf wieder aufholen.

Schon bald lief es glatter. Am vierten Tag auf der Rückfahrt stand an den hinteren beiden Wagen „Offenburg“, an den vorderen beiden und an der Lok „Basel Bad Bf“. Ich hatte während der ganzen Fahrt den Eindruck, dass die hinteren beiden lieber in Offenburg geblieben wären😃 Kein Wunder funktionierte die Haltestellenansage (FIS) nicht. Aber damit bin ich bereits bei der täglichen Arbeit. Die werde ich im nächsten Beitrag ausführlicher beschreiben. Bleibt dran und bis dann!