Milchmädchen im Management

Oder warum die SBB zu wenig Lokführer haben

Tu’s nicht…

Weichenstellung ins Ungewisse

Im Juli 2018 machte ich mir Gedanken um meine berufliche Zukunft. Es dauerte nicht lange, da kam ich darauf, dass ich Lokführer werden wollte. Bereits als Kind war ich ein grosser Modelleisenbahn-Fan, der Beruf reizte mich noch immer, und die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) suchten Lokführer.

Es ist schwierig, Interessenten für den Beruf zu gewinnen. Denn es gibt einige Punkte, die dagegensprechen. Die meisten Angestellten sind Gewohnheitstiere, die am liebsten von Montag bis Freitag von 8.00 Uhr bis 17.00 Uhr arbeiten. Als Lokführer hingegen

  • steht man zu nachtschlafener Zeit auf …
  • … oder kommt mitten in der Nacht nach Hause,
  • setzt seine Beziehung einem Stresstest aus,
  • sieht seine Kinder kaum noch, und
  • verbringt viele Wochenenden einsam und allein im Führerstand statt mit Freunden und Bekannten auf Partys und im Ausgang.

Für mich spielten diese Faktoren eine untergeordnete, um nicht zu sagen gar keine Rolle.

Noch schwieriger wird es dadurch, dass Lokführer zuerst ausgebildet werden müssen. Das dauert 14 bis 16 Monate. Nun ist die Zielgruppe bereits seit einiger Zeit volljährig und muss oft eine Familie ernähren. Deshalb lässt sie sich nicht mit einem Lehrlingslohn abspeisen. Das heisst, die Ausbildung ist für die SBB ziemlich teuer. Der Ausbildungslohn wurde kurzfristig um Fr. 10‘000 erhöht. Und das bestimmt nicht, weil die Interessenten Schlange stehen würden. Hinzu kommen die Saläre der Referenten, die Lehrmaterialien, Unterrichtsräume, Ausrüstung, Fahrzeuge usw. Alles in allem investieren die SBB Fr. 130‘000, bis ein Kandidat loslegen kann. Deshalb muss man sich nach der Ausbildung drei Jahre verpflichten. Wer es nicht tut, muss einen Teil der Kosten zurückzahlen. Auch damit hatte ich kein Problem.

Und als ob das alles nicht schon schwierig genug wäre, nehmen die SBB natürlich auch nicht jeden. Von einem Bewerber wollen sie vor allem sechs Dinge wissen:

  1. Hat er eine abgeschlossene Berufsausbildung oder eine Matura?
  2. Ist er bereit, unregelmässig zu arbeiten, also auch an den Wochenenden und im Schichtdienst?
  3. Ist er mit dem Lohn einverstanden?
  4. Hat er ein Sprachdiplom in einer zweiten Landessprache?
  5. Hat er einen einwandfreien Strafregisterauszug?
  6. Hat er eine Informationsveranstaltung besucht? Die werden regelmässig an den wichtigsten Standorten abgehalten und sind sehr aufschlussreich. Beispielsweise hat ein anderer Teilnehmer in Zürich-Altstetten gefragt, ob es eine Altersgrenze gäbe. Der Referent, Marco Gosetti, antwortete: „Wenn Sie bei der Bewerbung nicht gerade 63 sind, ist das Alter kein Problem.“

In meinem Fall ja, ja, ja, ja, ja und nochmals ja. Dazu – in aller Bescheidenheit – Technikverständnis, Eisenbahnbegeisterung, Zuverlässigkeit und Verantwortungsbewusstsein. Weil ich so motiviert war und gerne schreibe, habe ich sogar ein Motivationsschreiben mitgeschickt, obwohl das nicht verlangt war. Bahn frei für meine neue Karriere! Dachte ich zumindest.

Kein Anschluss unter dieser Zugnummer

Doch weit gefehlt:

„Wir haben zahlreiche gute Bewerbungen erhalten und die Auswahl fiel uns nicht leicht. Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir uns für andere Kandidaten entschieden haben, die unserem Qualifikationsprofil noch treffender entsprechen. Wir bedauern, Ihnen keinen positiven Bescheid geben zu können.“

Schlimm genug, aber fast noch schlimmer war:

„Wir freuen uns, wieder von Ihnen zu hören, falls Sie eine andere interessante Stelle bei der SBB entdecken.“

Nun gibt es ja verschiedene Einsatzorte in der ganzen Schweiz, und ich bin mobil. Ich dachte, vielleicht ist der Mangel woanders grösser. Und hatten sie mich nicht beinahe aufgefordert, es noch einmal zu versuchen? Mich also für einen anderen Standort beworben. Gleiches Ergebnis. Wer mich kennt, weiss, dass ich nicht so schnell aufgebe. Insgesamt waren es sechs Bewerbungen: Schaffhausen, Romanshorn, Winterthur, Zürich, Bern und Olten. Nein, nein, nein, nein, nein und nochmals nein. Mir kam das jedes Mal seltsamer vor. Beim letzten Mal war zwölf Tage, nachdem ich die übliche Standardabsage erhalten hatte, die gleiche Stelle für den gleichen Einsatzort und den gleichen Kursbeginn erneut ausgeschrieben!

Welches Spiel wurde hier gespielt, und über welche Superkräfte musste ein Bewerber verfügen, um eingestellt zu werden? Mit diesen Fragen habe ich mich an den Leiter Human Resources, Markus Jordi, gewandt. Der konnte dazu erst einmal überhaupt nichts sagen, aber Ladina Bass, ihres Zeichens „Hiring Partner“: Ich sei mit inzwischen 55 zu alt. Na ja, sie hat es etwas diplomatischer verpackt: Die Ausbildungskosten würden sich über die nach der Ausbildung verbleibenden neun Berufsjahre nicht rentieren.

Ihre Berechnungsgrundlagen sind mir nicht bekannt, aber ich hatte erhebliche Zweifel. Und hatte es nicht bei Marco Gosetti ganz anders geklungen? Weiss bei den SBB die Linke nicht, was die Rechte tut respektive sagt? Gleichzeitig legen die SBB für extern zugemietete Lokführer Fr. 800 bis Fr. 1200 auf den Tisch. Pro Tag! Und das nicht etwa stundenweise, sondern jahrelang. Das ist das Zwei- bis Dreifache des Salärs eines bei den SBB fest angestellten Lokführers. Rasch den Rechenschieber hervorgeholt und herausgefunden, dass – basierend auf einem mittleren Tagesaufpreis von Fr. 600 – meine Ausbildungskosten in weniger als einem Jahr amortisiert wären. Demzufolge lägen Ladina Bass & Co. um den Faktor zehn daneben. Ein anderer Kandidat war wegen eines Tattoos am Hals abgelehnt worden. Und dann ist mir auch noch ein Fall zu Ohren gekommen, in dem tatsächlich ein 55jähriger als angehender Lokführer eingestellt wurde… Wie ich es auch drehte und wendete, es wurde kein Schuh daraus.

Grund dafür ist menschliches Versagen am Hauptsitz

… wegen hausgemachten Personalmangels

Die Quittung liess nicht lange auf sich warten. Und an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Im September 2020 beherrschten Zugausfälle bei den SBB die Schlagzeilen. Jeden Tag konnten 200 Züge nicht verkehren, weil Lokführer fehlten. Das sollte noch monatelang so bleiben und sich erst Mitte 2021 entspannen. Und das in der sonst so perfekt organisierten Schweiz, deren Staatliche Bahn-Betriebe normalerweise pünktlich, zuverlässig und sauber sind. Ich musste dabei an das „Grounding“ einer anderen nationalen Ikone anno 2001 denken, als aus einem anderen schweizerischen (englisch: „Swiss“) Verkehrsunternehmen plötzlich die Luft (englisch: „air“) heraus war.

Bei den SBB ist das Bodenpersonal dafür umso mehr am Rotieren. Die aktiven Lokführer häufen immer mehr Überstunden an. Nicht alle Lokführer können alle Fahrzeugtypen fahren, weil an ihrer Ausbildung gespart wurde. Fehlen an einem Einsatzort Lokführer, müssen sie von einem anderen hingebracht werden, oft mit dem Taxi. Von Brig nach Genf kann das schon einmal zwei Stunden unproduktive Arbeitszeit dauern und Fr. 750 kosten, also fast das Doppelte eines normalen Tageslohns. Und es funktioniert nur, wenn der Lokführer die entsprechende Streckenkenntnis für die fremde Schicht hat. Wie in einem leckgeschlagenen Boot müssen die grössten Löcher zuerst gestopft werden. Eine Sisyphusarbeit. Unter den Personaldisponenten, die den Mangel verwalten müssen, sind Fälle von Burn-out bekannt geworden.

Wenn in einem ausgefallenen Zug durchschnittlich 200 Fahrgäste sitzen (würden), sind das 40‘000 Personen, die sich jeden Tag in andere, umso vollere Züge quetschen, zusätzliche Umstiege in Kauf nehmen müssen, mit Verspätung auf der Arbeit, zu ihren Terminen oder zu Hause ankommen, oder aufs Auto umsteigen, im Stau stehen, die Luft verpesten und den Lärmpegel erhöhen. Die SBB erbrachten nicht die mit den Kantonen vertraglich vereinbarten Transportleistungen. Das hat ihnen eine Rüge des Bundesamts für Verkehr (BAV) eingebracht. Pro Bahn Schweiz sprach von einem „Desaster“ und „Offenbarungseid“. Der Präsident der kantonalen Verkehrsdirektorenkonferenz wollte gar Haftungsansprüche prüfen.

Wie sich jetzt gezeigt hat, haben die HiWi’s von der Hilfikerstrasse eine Milchmädchenrechnung aufgemacht. Stehende Züge bedeuten nämlich für die SBB erhebliche Einnahmeausfälle. Und nicht nur das, sondern für jeden ausgefallenen Zug müssen die SBB eine Busse an das BAV bezahlen. Bei einem Schnellzug beträgt die sogenannte Pönalzahlung Fr. 10‘000. Rechne und staune: Wenn ich durchschnittlich nur zwei Intercitys pro Tag fahren würde, hätten sich die Kosten meiner Ausbildung innerhalb weniger Tage amortisiert. Das heisst, die Kalkulations-Koniferen in der Konzernzentrale haben sich nicht nur um den Faktor zehn, sondern 1000 verrechnet!

Als der Chef der Konzernleitung, Vincent Ducrot, sich den kritischen Fragen der Medien stellen musste, konnte er natürlich nicht zugeben, dass ganze Stabsabteilungen voller hochbezahlter Mitarbeiter kläglich versagt hatten. (Die Frage, ob sich deren Saläre bis zu ihrer Pensionierung noch rentierten, hat er sich vermutlich gar nicht gestellt.) Vielmehr wollte er sich mit:

„Viele Bewerber als angehende Lokführer erfüllen die Anforderungen nicht.“

herausreden. In der Tat sind für Lokführer strenge medizinische und psychologische Eignungstests vorgeschrieben. Ich wurde ja noch nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch, geschweige denn zu den Tests eingeladen. Wie sich später gezeigt hat, habe ich sie problemlos bestanden. Deshalb konnte ich seine Aussage so nicht stehenlassen und habe ihn kontaktiert. Natürlich hatte ich nicht mit einer persönlichen Antwort gerechnet. Die kam denn auch von Claudio Pellettieri, Leiter Zugführung und Rangier:

„Wir können die Klassen aktuell mit sehr gut qualifizierten Anwärterinnen und Anwärtern «füllen» (…)“

Das klang verdächtig nach derselben Schönfärberei, die ich bereits seit zwei Jahren immer wieder zur Antwort bekommen hatte. Auch das dumme Gerede seines obersten Chefs, der vor laufenden Kameras soeben das Gegenteil behauptet hatte, kümmerte ihn nicht. Und wenn laut Claudio Pellettieri alles paletti ist, warum wurde dann sogar die interne Revision eingeschaltet?

Sechs Jahre später, ich war längst ausgebildeter Lokführer, hatte ich mich als solcher bei SBB Cargo beworben. Und siehe da, man war an mir interessiert. Zumindest hatte ich einen Termin für ein Videointerview mit HR-Partnerin Eva Belhaj. Aber ach, die SBB spielten noch immer ihr altes Spiel. Sie sagte mir nämlich noch vor dem Termin wieder ab. Schlimm genug, aber die Begründung liess mir die Haare zu Berge stehen: Sie hätte meine Eignung aufgrund verschiedener Kriterien beurteilt und dabei Kandidaten bevorzugt, die diese noch besser erfüllen würden. Normalerweise prüfen Arbeitgeber die Eignung eines Kandidaten, bevor sie ihn zum Interviewtermin einladen. Sie listete die Kriterien sogar auf:

  • Zeitpunkt der letzten berufsbegleitenden Aus-/Weiterbildung
  • Erfahrung mit unregelmäßigen Arbeitszeiten
  • bisherige berufliche Erfahrungen
  • Nähe zum Arbeitsort
  • Affinität zur Technik und
  • Sprachkenntnisse.

Unnötig zu sagen, dass ich alles erfüllte. Und nie wieder von ihr gehört habe.

Fassen wir zusammen: Die SBB lehnen bestens qualifizierte und motivierte Bewerber ab, praktizieren eine kurzsichtige und kleinkarierte Personalpolitik, verbreiten falsche und widersprüchliche Informationen, diskriminieren Über-50jährige und verkalkulieren sich in einem astronomischen Ausmass.

Das halte ich für ein Gerücht.