Oder: Wie es weiterging
Neun Monate sind seit meinem Erfahrungsbericht vergangen. Seither ist viel Wasser ins Meer geflossen. Auch die Besucherströme auf meinem Blog haben mich überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass die Abenteuer eines kleinen Bikeguides auf so großes Interesse stoßen könnten. Entsprechend viele Reaktionen habe ich darauf erhalten. Von meinen Freunden, Bekannten und Kollegen positive, aus einigen TUI-nahen Kreisen kritische, um nicht zu sagen negative. Die waren für mich besonders aufschlussreich. Ich musste nämlich meine Illusion, dass David der einzige seiner Art sei, schweren Herzens aufgeben😯 Offenbar denken noch mehr Leute, nur regelmäßige Säufer seien richtige Seemänner, Bikeguides seien schuld an mangelhaftem Material, ein Weltkonzern solle sich von einer griechischen Klitsche erpressen lassen und „Vergiss es!“ sei das ultimative Rezept für den Unternehmenserfolg😉
Wenn mir je Zweifel gekommen sein sollten, ob mein Abstieg richtig war, dann weiß ich es jetzt besser: Ich bin keinen Moment zu früh gegangen. Denn es wurde nicht besser, im Gegenteil:
- Bikeguides dürfen nicht mehr allein auf Tour gehen. Das verunmöglicht die dringend benötigten Erkundungsfahrten. Das heißt, dass Gäste auch künftig am Aussichtspunkt vor lauter Bäumen stehen können, ihre schweren E-Bikes über Zäune hieven „dürfen“ und in der Gegenrichtung durch Einbahnstraßen fahren müssen. Ich frage mich, ob TUI die Bußgelder freiwillig übernehmen würde, oder ob die Gäste sie einklagen müssten😉 Ganz zu schweigen davon, was passiert, wenn ein argloser Radtouren-Geisterfahrer in einen korrekt entgegenkommenden Wagen knallt…
- Bereits kurz vor meinem Weggang wurde angeordnet, dass bei Unfällen auf Biketouren an Ort und Stelle unverzüglich der Shore Excursion Manager (Arthur) anzurufen und ein Unfallprotokoll auszufüllen sei, selbst wenn das Problem mit einem Pflästerchen behoben ist. In meinem letzten End-of-cruise-Meeting vom 6. Juni wollte ich anmerken, dass das weder sinnvoll noch praktikabel sei, und eine vernünftigere Lösung vorschlagen. Bevor ich dazu kam, bedeuteten mir meine Bikeguide-Kollegen mit Schienbeintritten zu schweigen, weil sie wussten, dass mein Versuch zum Scheitern verurteilt war, und nicht vorhatten, diese Anweisung zu befolgen. Während man also um jeden kleinen Kratzer bei Gästen einen Aufstand macht …
- … stellt man sie gleichzeitig auf lebensgefährliche Vehikel. Auch meine noch so eindringlichen Warnungen haben nichts genützt: Die Touren mit den zusammenklappenden Scootern wurden wieder aufgenommen😮Verantwortungslos ist gar kein Ausdruck. Es kam, wie es nicht hätte kommen müssen: Die Roller haben (Überraschung!) wieder versagt, und Guides und Gäste gerieten erneut in Gefahr. Und das alles nur, damit man noch ein paar Touren für 39 € verkaufen kann (siehe auch Kapitel „Umsatz, Umsatz über alles“). So hoch kann kein Manager-Bonus sein, dass er das Schmerzensgeld für einen einzigen verunglückten Scooter-Gast auch nur annähernd abdecken würde😮 Ob der Verantwortliche wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt wurde, ist mir leider nicht bekannt.
- Schlimm genug, aber das ist noch nicht alles. Obwohl Tim und ich bereits vergeblich versucht hatten, den Rollern das plötzliche Zusammenklappen abzugewöhnen, erhielt mein handwerklich ebenfalls sehr geschickter Kollege Sören erneut den Auftrag, die Dinger betriebssicher zu machen. Es nützte alles nichts, weil diese von Haus aus einen grundlegenden Konstruktionsfehler aufwiesen. Der nachträglich eingebaute Sicherungsbolzen ist quasi ein Schuldeingeständnis des Herstellers. Was David nicht davon abhielt, sich selbst zu übertreffen: Er schob nämlich Sören die Schuld für die mangelhafte Mechanik in die Schuhe😮 Jetzt weiß ich auch, warum mein Kollege kurz nach mir gegangen ist. Keine Ahnung, was ich an seiner Stelle getan hätte. Vielleicht David über Bord geworfen😉 Womöglich dämmerte es nun auch der Zentrale, wer einen der dringend benötigten Bikeguides nach dem anderen verheizt hat. Zumindest fährt David nicht mehr für TUI😃 Wenigstens eine gute Nachricht.
- Wenn man bedenkt, dass mein Blog teilweise ziemlich kritisch ausgefallen ist, wird klar, wie groß der Handlungsbedarf ist. Fortschrittliche Firmen haben längst erkannt, daß Kritik die beste Quelle für Verbesserungen ist. Beispielsweise hätte TUI den in meinem Bericht genannten Problemen und Schwachstellen zu Leibe rücken können. Aber warum die Ursachen beheben, wenn man die Symptome bekämpfen kann? An Bord hielt man es nämlich für zielführender, rechtliche Schritte gegen mich zu prüfen oder diese zumindest anzudrohen. Im Mittelalter wurden die Überbringer schlechter Nachrichten hingerichtet. Auf hoher See scheint dieser Brauch bis heute nachzuwirken😉 Demgegenüber bin ich der Ansicht, dass es weniger Missstände gäbe, wenn mehr Betroffene in die Pfeife pusten und ihre Erfahrungen veröffentlichen würden. Nicht nur in der Schifffahrt.
Ganz offiziell
Ich glaube, TUI hat nicht verstanden, dass ich das alles nur schreibe, weil mir die Firma wie keine andere am Herzen liegt und ich ihr helfen möchte, mehr und zufriedenere Gäste zu gewinnen und die bestmöglichen Arbeitsbedingungen an Bord zu bieten. Es will mir nicht in den Kopf, warum bei so einem hervorragenden Produkt wie Kreuzfahrten und einem so tollen Job wie Bikeguide so vieles im Argen liegen muss. Und warum die Verantwortlichen sich mit Händen und Füßen gegen Verbesserungen wehren. Auf dem Schiff war ich ja mit meinen Anregungen gegen eine Wand gelaufen. Ich glaube, es war diejenige mit dem Aushang „See it, say it!“😉 Zurück an Land dachte ich, ich versuche es mal bei der Zentrale. Und zwar mit einem netten Brief und nicht weniger als 24 konkreten Vorschlägen. Im einzelnen:
- Auswahl der Führungskräfte
- Alkohol an Bord
- Tourenplanung
- Breite der Gangway
- Prozesse und Abläufe an Bord
- E-Cross-Bikes
- Hardtails
- Kombipedale
- Lenkergriffe
- Stecker der E-Bikes
- Tenderboote vor Santorin
- Abfahrtszeit Antalya
- „Liegenpolizei“
- Ruß auf den Liegen, Partikelausstoß
- Plastikflaschen
- Müsliriegel
- Werkzeuge
- Navis
- Arbeitszeiterfassung an Bord
- Beschwerdestelle
- Auswahl und Beschaffung neuer Fahrzeuge
- Fleet Operations Manual
- Alkohol auf Touren
- Hineinschieben der Räder nach den Touren
Als Nachschlag gab es dann noch eine neue Idee zu der Liegenproblematik (Nr. 13),
- Unfallprotokolle und
- Klimaanlage
Alle systematisch strukturiert nach
- Situation
- Problem
- Verbesserungsvorschlag
- Vorteile
- Aufwand zur Umsetzung
McKinsey & Co. hätten dafür wohl mehr als den Jahreslohn eines Bikeguides verlangt😉
Dichtung und Wahrheit
Es kam tatsächlich eine Antwort: Die Kommunikationsbeauftragte namens Godja Sönnichsen wollte wissen, warum ich nicht im Sinne eines kooperativen Miteinanders das Gespräch mit der Zentrale gesucht hätte, statt meine Erfahrungen publik zu machen? Das hätte ich natürlich tun können. Nur war der Ausdruck „kooperatives Miteinander“ an Bord leider nicht bekannt. Insofern war nicht davon auszugehen, dass es in der Zentrale anders sein könnte. Ohne meinen Blog hätte TUI meine Anregungen wohl kaum ernster genommen. Und was hat sie davon abgehalten, auf mich zuzukommen, wenn mein Bericht ihnen ein Dorn im Auge war? Des weiteren schrieb die Dame, man hätte meinen Blog bereits vor Monaten zur Kenntnis genommen und Verbesserungen in die Wege geleitet. Dem wolle man jetzt noch einmal nachgehen.
Das wollte nun wiederum ich genauer wissen. Und habe in der von TUI definierten Qualitätspolitik nachgeschaut. Darin steht an erster Stelle:
„Maximale Sicherheit ist unser Ziel
Die maximale Sicherheit unserer Gäste und unserer Crew hat für uns jederzeit die höchste Priorität.“
Soweit die Theorie. Die klingt soweit ganz gut. Ist aber leider gelogen😯 Der Tatbeweis für das Gegenteil liegt auf der Hand: Es war nämlich die TUI-Zentrale, die bestimmt hatte, daß die Lunten der „rollenden Zeitbomben“ wieder angezündet wurden. Der Scooter-Skandal belegt auf besonders drastische Weise, dass man keine Skrupel hat, Gäste wider besseres Wissen in Gefahr zu bringen, wenn man ihnen dafür noch ein bisschen mehr Geld abknöpfen kann. Gleichzeitig ist man dreist genug, öffentlich das Gegenteil zu behaupten. Richtigerweise müsste der entsprechende Punkt in der Qualitätspolitik lauten:
„Maximaler Profit ist unser Ziel
Der maximale Profit unserer Aktionäre und unserer Manager hat für uns jederzeit die höchste Priorität.“
Soweit die Praxis. Die klingt natürlich nicht so gut. Ist aber leider wahr😯
Ich glaube, ich werde mir das TUI-Logo doch nicht als Tattoo stechen lassen😉