Aussicht von Rigi Kulm über das Nebelmeer.
„Heute wollte ich auf die Rigi. Aber ich muss arbeiten!“
Die Rigi nennt sich „Königin der Berge“. Sie ist 1.797 m hoch und der beliebteste Aussichtsberg der Schweiz. Das hat nicht nur damit zu tun, dass sie sowohl von Zürich als auch von Luzern sehr leicht erreichbar ist, sondern vor allem mit ihrer – zumindest bei klarer Sicht – phantastischen Aussicht. Daneben gibt es die eine oder andere „verborgene Perle“, beispielsweise das Felsentor bei Romiti, die zum Museum umfunktionierte Festung Vitznau aus dem Zweiten Weltkrieg und die Höhle Grubisbalm mit einem See, die man für Anlässe mieten kann. Ausserdem gibt es 120 km Wanderwege. Die meisten Gäste kommen mit einer der vier Bahnen:
- Zahnradbahn von Vitznau über Rigi Kaltbad nach Rigi Kulm (VRB)
- Zahnradbahn von Arth-Goldau über Kräbel nach Rigi Kulm (ARB)
- Luftseilbahn von Weggis nach Rigi Kaltbad. Dort befindet sich trotz des eher abschreckenden Namens ein Thermalbad, das der Schweizer Stararchitekt Mario Botta entworfen hat.
- Luftseilbahn von Kräbel auf die Rigi Scheidegg
Die ersten beiden haben die gleiche Spurweite, das gleiche Zahnstangensystem und die gleiche Fahrdrahtspannung. Sie waren ursprünglich Konkurrenten und haben erst 1992 fusioniert. Damit niemand vergisst, dass man seither zusammengehört, wurde der Slogan „Ein Berg – ein Team“ kreiert, den manche gerne mit „zwei Hoheitsgebiete“ ergänzen, weil die eine Bahn aus dem katholisch-konservativen Kanton Luzern, die andere aus dem ebenso katholisch-konservativen Kanton Schwyz kommt und die Grenze zwischen beiden auf dem Grat liegt. Die dritte Bahn gehört ebenfalls den Rigi Bahnen AG, die auch die vierte betreibt. Das Unternehmen besitzt ausserdem die Dienstleistungszentren (auch Shops genannt) in Vitznau, Kaltbad, Kulm und Goldau, die Restaurants „Bistro“ in Kulm, „Bahnhöfli“ und „Lok 7“ in Staffel, zwei AirBnB-Wohnungen im dortigen Stationsgebäude, mehrere Skilifte, einen Schlittenverleih und das Event-Zelt auf der Staffel, in dem jeweils die Generalversammlungen stattfinden.
Die Vitznau-Rigi-Bahn wurde 1871 in Betrieb genommen und ist damit die älteste in Europa. Bei besonderen Anlässen verkehren immer noch Dampfzüge. Lok 7 ist die älteste, stammt von 1873 und hat einen stehenden Kessel. Als man sie vor einigen Jahren vom Verkehrshaus der Schweiz in Luzern wieder übernahm, musste der 1937 angebrachte Fahrdraht höher montiert werden. Aus dieser Zeit fahren noch die Lok 18 und einige Motoragen. Erst in den 80er Jahren kamen die „Beeris“ mit Steuerwagen dazu. Die Arth-Goldau-Rigi-Bahn muss bis heute mit ähnlich alten Fahrzeugen Vorlieb nehmen.

Bei der VRB kamen 2022 sechs moderne Gelenktriebwagen (GTW) von Stadler Rail dazu. Die sind zu lang für unsere Drehscheibe in Vitznau und können deshalb mit den verschiedenen Bögen nur auf den ersten drei Gleisen im Depot abgestellt werden. Sie verfügen erstmals über einen flachen Einstieg, was die Sache nicht nur für Rollkoffer, Kinderwagen und Rollstühle, sondern auch für unsere Gepäckwägelchen sehr erleichtert. Am coolsten ist die „3. Klasse“: Die Holzbänke vorne und hinten neben den Führerständen. Oft sind die GTW’s in Doppeltraktion unterwegs. Dann sind sie zu lang für die Halte Grubisbalm, Freibergen und Romiti Felsentor. Deshalb müssen die Fahrgäste, die dort aussteigen wollen, in den vorderen Zugteil einsteigen und uns informieren oder rechtzeitig den Haltewunschknopf drücken. Von den Mini-Perrons in Unter-, Mittler- und Oberschwanden ganz zu schweigen: Dort öffnet der Lokführer jeweils nur die vorderste Tür. Dasselbe gilt für die Talfahrt. Weil wir da die Billette erst im Zug kontrollieren, können wir die Fahrgäste für die Zwischenstationen nicht in den vorderen Zugteil schicken. Deshalb ertönt rechtzeitig eine automatische Durchsage über Lautsprecher, wonach die Fahrgäste im hinteren Zugteil zwischen Kaltbad und Vitznau nicht aussteigen können. Und zwar sowohl auf Schweizerdeutsch als auch auf Englisch. Dummerweise verstehen viele Leute trotzdem nicht, was gemeint ist, und denken, ihr Zugteil würde unterwegs abgehängt.

Diese Fahrzeuge müssen natürlich bedient werden. Deshalb suchten die Rigi Bahnen Lokführer. Nach Personen- und Güterzügen fehlte in meinem Lebenslauf eigentlich nur noch eine Bergbahn. Nach dem Vorstellungsgespräch durfte ich einen Schnuppertag verbringen. Der begann früh am Morgen, damit ich einen Güterzug begleiten konnte. Bei den Rigi Bahnen ist es wie auf einem Kreuzfahrtschiff: Jede Hand wird gebraucht. Auch ich durfte gleich mit anpacken und die Ladung in Kaltbad abladen helfen. Als die Fahrgäste später in einen GTW-Zug einstiegen, drückte mir der Fahrdienstleiter, der gleichzeitig die Leitstelle ist, einen Personenzähler in die Hand, weil vor jeder Bergfahrt in Vitznau und vor jeder Talfahrt in Kaltbad die Anzahl Fahrgäste gezählt wird. Er muss wissen, wie viele Gäste noch auf dem Berg sind, weil er je nach dem Extrazüge losschicken muss. Ich hatte bereits damit gerechnet, dass der potentielle Chef danach die Meinungen der Kollegen, mit denen ich an meinem Schnuppertag zu tun gehabt hatte, einholen würde. Aber ein einfacher Anruf oder ein kurzes persönliches Gespräch reichte dazu nicht. Die Kollegen mussten gleich einen ganzen Fragebogen ausfüllen. Offenbar haben sie die richtigen Antworten gegeben, denn ich wurde eingestellt. Zusammen mit einer kalten Dusche: Die Bezahlung war nämlich für schweizerische Verhältnisse eher bescheiden. Und zwar im Stundenlohn. Kurz zuvor war ausserdem das kostenlose Halbtaxabo von neu eingetretenen Mitarbeitern abgeschafft worden.

Darauf angesprochen meinte unser CEO, dass die Rigi Bahnen eine private Aktiengesellschaft seien und ihre Erträge fast ausschliesslich aus den Fahrkartenverkäufen erzielen müssten, während die Eisenbahnen im Flachland dem Service Public dienten und entsprechende Abgeltungen von der öffentlichen Hand erhielten. Dass es bei der „armen“ Bergbahn immer noch für eine Dividende für die Aktionäre und einen Bonus für die Geschäftsleitung reicht, musste ihm temporär entfallen sein. Irgendjemand sagte zwar, dass man sich nach einigen Abgängen nun doch mit dem Thema „Lohnerhöhung“ befasse, aber niemand weiss, was dabei herauskommt. Immerhin gibt es ab diesem Jahr drei bis fünf mehr bezahlte Urlaubstage.
Um den Betrieb und die Abläufe kennenzulernen, macht jeder Lokführer zuerst die Ausbildung zum Zugbegleiter und Bremser. Dazu gehören auch die Fahrdienstvorschriften. Diejenigen der Rigi Bahnen basieren auf denjenigen der SBB, machen aber wegen der einfachen Verhältnisse vom Umfang her nur ungefähr ein Drittel aus. Deswegen hat man alles gekürzt, was für die Rigi Bahnen nicht relevant war. Oder fast alles: Im Kapitel R 300.12 über Arbeiten im Gleisbereich dürfen sich nämlich gemäss Abschnitt 3.7.1. keine Fahrzeuge mehr in einem gesperrten Gleis befinden, dessen Sperrung aufgehoben werden soll, ausgenommen im Bahnhof und im Bereich der Führerstandsignalisierung. Die Rigi Bahnen fahren auf Sicht. Da gibt es nicht einmal Signale an der Strecke, noch weniger ein Zugsicherungssystem wie ZUB, und am allerwenigsten eine Führerstandsignalisierung wie etwa ETCS. Letzteres haben selbst die SBB nur auf wenigen Strecken für Geschwindigkeiten von über 160 km/h. Die Rigi Bahnen sind mit höchstens 20 km/h unterwegs. Da braucht man keine technisch extrem aufwändige Führerstandssignalisierung. Das ist etwa so, wie wenn man die Regeln für Überschallflugzeuge auf Propellerflugzeuge anwenden wollte.
Einen grossen Teil der Ausbildung machte das Billettwesen aus. Manche werden gelocht wie anno 1871, andere gescannt und wieder andere weder noch. Was es da alles gibt! Einfach-, Retour- und Wanderbilletts, Aktionärsbilletts, Tages- und Mehrtageskarten, je nach dem mit Gästekarte oder Halbtax-Abonnement, Besucherbilletts, Gruppenbilletts, Online-Tickets, Schifffahrts-Gesellschaft Vierwaldstättersee (SGV), Generalabonnement (GA), Begleitabo für Behinderte, Mitfahrbilletts, Rigi-Jahresabo, Verband öffentlicher Verkehr (VöV), Seilbahnen Schweiz (SBS), Transportunternehmen Zentralschweiz (TUZ), Schneepass (mit Plus auch für den Sommer), Swiss Knife Valley, Marschbefehl für Soldaten im Dienst, Begleitkarten, Family Card, Swiss Travel Pass, Tageskarten, Spartageskarten, Friends Day Pass for Youth, „Königliche Rigi-Rundfahrt“, FairTiq, EasyRide und zahlreiche andere Billetts von Online-Reisebüros wie GetYourGuide oder viator.
In Vitznau kontrollieren wir die Fahrscheine bereits vor dem Einstieg. Wenn ein Schiff aus Luzern 200 Gäste auf einmal bringt, kann das schon mal hektisch werden, vor allem, wenn sie auch noch drängeln, wenn man sich beim Eingeben des PINs am Kontrollgerät vertippt oder wenn es Ladehemmung hat. Nur die unterwegs neu Zugestiegenen werden dann im Zug kontrolliert. Obwohl ich beispielsweise immer sage „New passengers only“ oder „Tickets from Kaltbad“, denken die asiatischen Gäste, sie müssten ihre Billetts noch einmal zeigen. Keine Ahnung wieso. Dafür bedanken sich die Schweizer bei mir, nachdem ich mich bei ihnen bedankt habe.
Kinder bis 15 Jahre in Begleitung Erwachsener sind kostenlos. Die freuen sich immer, wenn ich ihnen sage, dass sie sich die Fahrkarten für ihren Nachwuchs hätten sparen können, und ihnen empfehle, sie im Shop zurückzugeben. Zweimal habe ich es bei der Einlasskontrolle in Vitznau versucht. Das erste zugegebenermassen grossgewachsene vermeintliche Kind antwortete auf meine Frage „Wie alt ist das Mädchen?“: „21, warum?“ Beim nächsten Mal handelte es sich um einen kleinen Fahrgast asiatischer Herkunft. Hier lautete die Antwort auf die Frage: „How old is the boy?“: „Twenty-five.“ Bei der Ankunft in Vitznau stehen wir Spalier und bedanken uns für ihren Besuch. Gemäss dem Motto „Qualität schafft Mehrwert“ wollen wir der freundlichste Berg der Schweiz sein.
Anders als bei den SBB oder der DB gibt es keine wirklichen Schwarzfahrer. Obwohl es unsere frühere Verwaltungsratspräsidentin versucht hat. Wie jeder Aktionär hatte sie ein Einladungsschreiben samt Gratis-Tageskarte für den Tag der Generalversammlung bekommen. Dieses war bei der Einlasskontrolle aber bereits abgetrennt und fehlte. Das bedeutete, dass sie es weitergegeben oder weiterverkauft hatte, zumal kein Name darauf steht. Sie berief sich darauf, dass sie als VR-Präsidentin das Recht hätte, kostenlos zur Generalversammlung zu fahren, und sie konnte ja auch die Einladung vorweisen. Nur halt kein Billett. Mein Kollege aus Arth-Goldau liess sie erst durch, nachdem sie wie alle anderen eines gekauft hatte. (Es war derselbe Kollege, der auch die Geschichte von der riesigen Hochzeitstorte erzählte, die zwar unbeschadet in Rigi Kulm ankam, aber beim Ausladen in den Schnee plumpste.) Man kann problemlos im Zug nachlösen und muss „nur“ einen Service-Zuschlag von Fr. 5 bezahlen. Wir haben sogar E-Cash-Geräte, damit die Gäste mit Karte bezahlen können. Die allerdings mangels Funkverbindung nicht überall auf der Strecke funktionieren. Nicht erlaubt ist es hingegen, während der Fahrt noch ein Online-Billett zu kaufen. Was aus dem gleichen Grund in der Regel ohnehin nicht klappt. Hat der Gast dann nicht genug Bargeld, begleiten wir ihn in Kulm, Kaltbad oder Vitznau in den Shop. Dann gehen allerdings sowohl die Fr. 5 Service-Zuschlag als auch unsere 5% Provision aus den Fahrkartenverkäufen verloren.
Weil man auf Sicht fährt, braucht und gibt es keine grün-orange-roten Lichtsignale. Alle Zugbegleiter werden auch zum Bremser ausgebildet. Die Güterzüge, die älteren Motorwagen und die Dampfzüge verkehren mit Vorstellwagen. Die Wagen müssen aus Sicherheitsgründen stets bergseitig gekuppelt sein, das heisst, sie werden bergauf geschoben. Dadurch hat der Lokführer meistens keine freie Sicht auf den Fahrweg. Deshalb steht oder sitzt der Bremser auf der vordersten Plattform und gibt dem Lokführer über eine kleine Box die erforderlichen Signale:
- Den Knopf einmal drücken = fahren oder weiterfahren
- Den Knopf zweimal drücken = langsam fahren
- Den Knopf dreimal drücken = anhalten
Zusätzlich gibt es noch den roten Notbremsknopf, den ein Kollege aus Arth-Goldau tatsächlich einmal betätigen musste, weil jemand vor dem Zug die Gleise überquert hatte. Glücklicherweise war sein Zug eben erst angefahren. Durch den permanenten Eingriff des Zahnrads kann die Bremswirkung sehr stark und sehr abrupt einsetzen. Im normalen Betrieb kommt das natürlich nicht vor, aber ich durfte es auf einer Testfahrt am eigenen Leib erfahren: Als der Lokführer mit einem ansonsten leeren GTW bei der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h bergauf und 17,5 km/h talwärts Schnellbremsungen gemacht hat, wurde ich mit grosser Kraft nach vorne geschleudert. Der Zug stand bereits nach rund 20 Metern. Eine Schnellbremsung bei der Flachbahn ist dagegen das reinste Wellness-Programm.

Am Ende des ersten Monats waren bei mir die schriftliche, die mündliche und die praktische Prüfung angesagt. Alle mit gut bis sehr gut bestanden. Meine einzigen Fehler waren, dass ich den Dienstfahrplan nicht auf der richtigen Seite (mit meiner Zugnummer) aufgeschlagen hatte, dass ich nicht geprüft hatte, ob die Handbremse auf meinem Vorstellwagen gelöst war, so dass der Zug erst beim zweiten Versuch anfuhr, und dass ich bei der Rückfahrt beinahe vergessen hätte, das rote Zugschlusssignal aus dem Motorwagen hinten anzubringen.
Eine meiner Prüfungsfragen bezog sich auf die Handbremse. Die muss man selbstredend jederzeit betätigen können. Deshalb staunte ich nicht schlecht, als wir einmal mit einem Güterzug 6 Tonnen Hühnerfutter für die grosse Geflügelzucht hinaufbringen mussten und die schweren Säcke auf den Paletten so nahe an der Handbremse geladen waren, dass man sie nicht mehr drehen konnte.

Beim Aufstellen in Vitznau schieben wir einzelne Wagen oft von Hand. So bugsierte ich einmal den „Milchwagen“, der in der Saison jeden Abend die Milch von der Gratalp hinunterbringt, auf die Drehscheibe. Er rollte von selbst. Auch als er nicht mehr rollen sollte. Ich wollte ihn mit der Spindelbremse zum Stehen bringen, aber die reagierte nicht. Beziehungsweise erst im letzten Moment, als der Mittelpuffer bereits die Absperrung hinter der Drehscheibe berührte. Der Adrenalingehalt in meinem Blut erreichte einen neuen Höchstwert.

Überhaupt ist die Drehscheibe nicht ganz ohne. Das Bedienpult verfügt über diverse Leuchtmelder, darunter „Drehscheibe ausgerichtet“. Wenn er leuchtet, kann man „Drehscheibe verriegeln“ drücken, und der dazugehörige Leuchtmelder und das Licht für den Lokführer an dem kleinen Mast wechseln auf grün. Ein Kollege hatte die Drehscheibe für den Traktor mit einem Vorstellwagen gestellt, dessen Fahrer keine Sicht auf die Gleise hatte. Er hatte sich dabei an den beiden Leuchtmeldern orientiert, und die Ampel zeigte grün, worauf der andere Kollege mit dem Traktor losfuhr. Aber nur, bis ich ihm heftig gestikulierend und rufend entgegenlief und ihm bedeutete, sofort anzuhalten. Damit hatte ich eine Entgleisung verhindert. Es gibt eine Position der Drehscheibe, in der sie nur zehn Zentmeter weiter für ein anderes Gleis eingestellt ist, und genau dies war da der Fall. Nach den Spuren im Asphalt zu schliessen, wäre es nicht die erste solche Entgleisung gewesen.
Gefahren können auch von anderer Seite drohen. Die Unwetter im August 2024 haben die Gleise der Brienzer-Rothorn-Bahn so stark unterspült, dass sie für den Rest der Saison den Betrieb einstellen musste. Das hätte auch den Rigi Bahnen passieren können. „Glücklicherweise“ kamen wir mit einem Baum in der Oberleitung davon. Und dann war da noch der Bauer, der sein direkt neben dem Gleis liegendes Feld mit Gülle düngte. Dummerweise rutschte der Schlauch ab, und ein zufällig vorbeifahrender Zug mit zahlreichen offenen Fenstern bekam eine Stinkdusche ab.
Theoretisch muss der Bremser vorne auf dem Güterwagen in einem Schalensitz sitzen und mit einem Fünf-Punkte-Gurt angeschnallt sein, weil es ihn sonst bei einer Notbremsung nach vorne auf die Gleise schleudert. Leider kann man den im Übrigen sehr schweren Sitz nicht auf allen Güterwagen vorne anbringen. Einmal musste ich mich am Betonmischer festkrallen. Wenn wir landwirtschaftliche Fahrzeuge, Lieferwagen oder den Heizöl- oder den Pellets-LKW befördern, sitzt der Bremser auf dem Fahrersitz.

Die Strecke von Vitznau nach Rigi Kulm ist rund 7 km lang oder kurz, je nach dem. Die Höhendifferenz beträgt 1300 m und grösste Steigung 250%o. Wenn der Lokführer beim Anfahren in der Steigung nicht genügend Leistung aufschaltet, rollt der Zug kurz rückwärts, bevor er von der Klinkenbremse blockiert wird. Spätestens dann ist auch die letzte Schlafmütze hellwach. Die Bergfahrt dauert fahrplanmässig 32, die Talfahrt 40 Minuten. Der erste Abschnitt von Vitznau bis Freibergen ist einspurig, bis Kaltbad zweispurig und danach wieder einspurig. Berg- und talwärts fahrende Züge kreuzen sich demzufolge zwischen Freibergen und Kaltbad. Mit den GTW’s, die bergab schneller fahren können als die alten Züge, warten wir in Kaltbad immer einige Minuten nach der fahrplanmässigen Abfahrtszeit, bis der Gegenzug in Vitznau abgefahren ist. Dann können wir die Bremsenergie rekuperieren, in den Fahrdraht zurückspeisen und damit den bergwärts fahrenden Zug antreiben.

An manchen Tagen fuhr ich fünfmal hoch und hinunter. Die ersten paar Tage war ich abends müde, aber man gewöhnt sich sehr rasch daran. Als Zugbegleiter kontrolliert man nicht nur Billetts und informiert die Reisenden, sondern man fertigt auch den Zug ab und schreibt einen Fahrtbericht. Darin werden die Verkehrszeiten, die Kreuzungen und die Anzahl Reisender festgehalten. Überhaupt nimmt man es bei den Rigi Bahnen mit allem sehr genau: Lerntagebuch, Checklisten, Prozesse… Da kann man schon einmal über das Ziel hinausschiessen: Nachdem ich bei railCare problemlos mit meinem deutschen und somit EU-Triebfahrzeugführerschein der Kategorie B (Streckenlokführer) unterwegs gewesen war, bekam ich bei den Rigi Bahnen auch noch einen schweizerischen der Kategorie Bi (Bremser und indirekter Führer). Bis das Bundesamt für Verkehr (BAV) darauf kam, dass es nicht zulässig sei, zwei Führerscheine zu besitzen.
Wir haben viele angemeldete Reisegruppen, vor allem aus der Schweiz, aber auch aus anderen europäischen und asiatischen Ländern. Diese erscheinen in der Regel bei jedem Wetter. Falls es trübe, kalt und regnerisch ist, bleiben nur die Einzelgäste weg. Für uns Zugbegleiter ist das nicht unangenehm, weil es dann weniger zu tun gibt. Bei schönem Wetter ist es sowieso schön. Einmal waren unsere Züge trotz schlechten Wetters rappelvoll. Es war nach dem Temperatursturz Anfang September 2024. Wir wunderten uns sehr, bis wir erfuhren, dass die nahegelegene Pilatusbahn vereist war und deswegen den Betrieb hatte einstellen müssen. Deshalb wichen alle Ausflügler zu uns aus. Des einen Leid, des anderen Freud‘. Allerdings können auch bei uns im Winter Züge steckenbleiben. Zwar können die Zahnräder prinzipbedingt nicht durchdrehen, bleiben aber stehen, wenn die Motoren keinen Saft mehr bekommen, weil die Oberleitung vereist ist. Deswegen haben die „Beeris“ Eiskratzer, und die GTWs heizen den benötigten Abschnitt der Oberleitung mit Hilfe eines zweiten Stromabnehmers elektrisch auf.

Für die Reisegruppen reservieren wir Zugbegleiter jeweils die passende Anzahl an Sitzplätzen. In Vitznau klappt das, weil dort die Billettkontrolle vor dem Einstieg erfolgt. Natürlich sperren wir auch für die Talfahrt ab Kulm, Staffel oder Kaltbad Zugteile für angemeldete Gruppen ab. Allerdings kommen manche Tourguides nicht auf die Idee, uns Zugbegleiter zu fragen, wo sie sitzen sollen, sondern ihre Gruppen drängen sich unter die Einzelreisenden und nehmen deren Plätze weg, während die reservierten leer bleiben. Erst bei der Fahrkartenkontrolle kommt heraus, wo die Gruppe sitzt. Wenn es regnet, kann es schon mal vorkommen, dass ich, kaum dass sich die Tür öffnet, von einer Gruppe überrannt werde, bevor ich fragen kann, um welche Gruppe es sich handelt. Manche Gruppen nehmen frühere oder spätere Züge oder spazieren einen Teil des Weges hinunter, so dass wir umsonst reserviert haben. Es gibt allerdings auch das Gegenteil, nämlich, dass dreiste Einzelreisende unsere Absperrbänder öffnen und sich in den reservierten Bereich setzen. Weil sich immer wieder Gäste beschweren, wenn sie an besucherstarken Tagen stehen müssen, hatte man vor einigen Jahren auch versucht, Einzelplätze zu reservieren. Was Fahrgäste ohne Reservation nicht davon abhielt, sich auf die reservierten Plätze zu setzen. Ich hätte alle reservierten Einzelgäste als Gruppe behandelt und für diese ebenfalls mit den Absperrbändern reserviert.
Mitglieder asiatischer Reisegruppen erkennt man häufig daran, dass alle Empfänger im Ohr tragen und ihr Reiseleiter mit einem Mikrofon und einem Sender ausgestattet ist. Eine Koreanerin brachte ihren Gästen auf diesem Weg das deutsche Wort „dankeschön“ bei. Beim Aussteigen bedankten sich alle so artig bei mir, dass mir das Herz aufging. Manche Koreaner wollen auch Selfies mit uns. Vielleicht wegen unserer schönen Uniformen. Es gibt Gerüchte, dass manche dieser Bilder in ihrer Heimat veröffentlicht werden, und wenn man dorthin in Urlaub fährt, kann es sein, dass man plötzlich sich selbst auf einem Plakat oder Bildschirm begegnet.

Anders als bei der Flachbahn stellen die Lokführer und die Bremser die Weichen. Und zwar per Funk. Bremser ist so ziemlich das Coolste, zumindest bei schönem Wetter. Mühsam ist es hingegen, unter einen abgestellten Güterwagen zu kriechen, um den Zahnstangen-Sperrschuh darunter anzubringen, damit er nicht wegrollt, und ihn bei Abholung wieder zu entfernen.
Aber selbst das war noch gar nichts im Vergleich zu jenem Tag, als ich pünktlich um 7.30 Uhr zum Dienst erschien und als Erstes erfuhr, dass sie mich erst einmal nicht bräuchten. Ich solle doch in der Werkstatt nachfragen, ob ich dort helfen könne. Dort gibt es naturgemäss immer etwas zu tun. Nicht zuletzt deshalb, weil die meisten Lokführer auch Mechaniker sind und vor lauter Fahren zu wenig zum Schrauben kommen. In meinem Fall hiess das, mit dem Meissel Teeröl von alten Getriebegehäusen abzukratzen und den Rest anschliessend mit einer bakteriellen Flüssigkeit abzuspülen. Und das vier Stunden lang im Stehen. Meine noch fast neue leuchtend orange Rangierjacke war danach völlig verschmiert.

Einmal war ich nach meiner Bergfahrt mit einem Güterzug als Gästelenker auf der Bergstation eingeteilt. Es wäre eigentlich kein Problem gewesen, wäre da oben nicht ein eisiger Wind gegangen. In dieser Eigenschaft beantwortet man die immer gleichen Fragen: Wann fährt der nächste Zug? Wie komme ich nach Rigi Kaltbad? Habe ich Anschluss auf das Schiff? Eine Chinesin zeigte mir ein Bild mit dem Schriftzug „Rigi Kulm“ und fragte mich, wie sie dorthin käme. Wir waren auf Rigi Kulm. Manche Fahrgäste haben Billetts für die erste Klasse und fragen, wo diese sei. Meine Kollegen sagen üblicherweise, dass überall erste Klasse sei. Ich gebe auch schon mal zurück, dass wir neben der zweiten auch die dritte in Form der Holzliegen bei den Führerständen hätten. Wenn Gäste mit chinesischem Aussehen diese Frage stellten, antwortete ich stets: „We only have the People’s Class.“ („Wir haben nur die Volksklasse.“)
Weil für die neuen GTW’s, die mehr Strom ziehen als die älteren Fahrzeuge, die Fahrleitung erneuert werden muss, sind zeitweise abends und nachts einige Bauzüge unterwegs. Einmal schickten wir vier Züge gleichzeitig hinauf. Da kam die Bahn an ihre Grenzen. Zwar halfen alle mit, aber trotzdem hatte einer der Züge zehn Minuten Verspätung. Einer der Lokführer regte sich darüber wahnsinnig auf, und der Fahrdienstleiter entschuldigte sich, dass es nicht richtig geklappt hätte. Na ja, auf der Flachbahn ist das der Normalzustand.
Der grösste Unterschied zwischen der Deutschen Bahn und den Rigi Bahnen liegt darin, dass bei der DB kaum jemand die Innenreinigung gemacht hat, selbst wenn sie auf dem Dienstplan stand. Auf der Rigi hebt jeder Lokführer und Zugbegleiter unaufgefordert leere Pappbecher, Plastikflaschen, Papierchen und anderen Unrat sogleich auf und bugsiert ihn in den nächsten Mülleimer. Und zwar nicht nur im Zug, sondern auch auf dem Perron. Bei schönem Wetter kann es schon mal vorkommen, dass der Lokführer zwischen Staffelhöhe und Staffel anhält, in den Fahrgastraum kommt und den Gästen die Berge und Seen erklärt, die man von dort sieht. Oder über das Mikrofon selbst ein Ständchen gibt. Die meisten Lokführer auf den GTW’s spielen kurz vor der Ankunft auf den Gipfel das Rigilied des Quartetts „Waschächt“ ab. Es ist ein typischer Schweizer Ländler mit Jodeleinlagen, der eigens für uns komponiert wurde, und bei dem unser Chef-Ausbilder Kontrabass spielt. Die Gäste lieben das Lied so sehr, dass einige es explizit wünschen. Anders als bei DB und SBB sind sie meistens gut drauf und freundlich. Sie mögen es, wenn ich ihre Fragen beantworte, ihnen etwas über die Bahn erzähle oder Scherze mache, beispielsweise: „Ist ihr Hund unter 16? Dann braucht er noch kein Billett!“ Andere lobten mich für meinen Umgang mit den Gästen. Wenn wir abfahrbereit sind und noch Gäste zu laufen kommen, um den Zug zu erwischen, warten wir natürlich. Sie freuen sich dann immer, und ich kann meinen Lieblingsspruch „Wir sind zum Glück nicht bei der SBB!“ loswerden. Manche geben mir sogar Trinkgeld, etwa die sechs deutschen Senioren, die unbedingt unsere Dampfloks im Depot sehen wollten und denen ich deswegen eine kleine Führung gab. Eine englischsprachige Dame meinte: „You have such a beautiful country. You must be happy to live here!“

Natürlich gibt es auch andere. Manche Fahrgäste verwechseln eine Tageskarte mit einer 24-Stunden-Karte und wollen auch am nächsten Tag noch damit fahren. Eine deutsche Frau, die im Zug nachlöste, war entsetzt über die schweizerischen Preise: „Die nehmen es von den Lebenden!“ Ich fragte sie, ob sie bereits auf dem Pilatus oder auf dem Jungfraujoch gewesen sei, und als sie erwartungsgemäss verneinte, riet ich ihr von einem Besuch dort ab. Ein englischsprachiger Gast, der unterwegs ohne Billett zugestiegen war, wollte sich damit herausreden, dass unser Zug ein paar Minuten Verspätung gehabt hätte und er deshalb nicht gewusst hätte, ob er überhaupt käme. Ein Schweizer, der hinaufgewandert war und angeblich um Punkt 16.30 Uhr vor der bereits geschlossenen Tür unseres Shops auf Kulm stand, ärgerte sich über die Fr. 5 Servicegebühr. Ich wies ihn freundlich darauf hin, dass an der Tür stände, dass der Shop bei schlechter Witterung (es war trübe) bereits um 15.30 Uhr schlösse und dass er sein Billett auch online über das Smartphone (er hatte keines) oder vor dem Losmarschieren im Shop in Vitznau hätte beziehen können. Er schickte anschliessend eine böse Mail an das Shop-Team. Dessen Chef verzichtete auf eine Antwort.
Und dann war da noch die Schweizerin, deren Eltern bereits in dem Zug sassen, den sie mit ihren Kindern in Romiti im letzten Moment noch keuchend erreichte. Auch sie wollte über EasyRide zu spät ein Billett kaufen. Ich wies sie freundlich darauf hin, dass das nicht zulässig sei und sie bereits beim Einstieg über eine gültige Fahrkarte verfügen müsse. Sie murmelte etwas von „medizinischem Notfall“ und brach in Tränen aus. Ihr Vater kaufte dann die Fahrkarte für sie. Ihre Mutter konnte es sich nicht verkneifen, sich beim Aussteigen über mich zu beschweren: Ich hätte ihrer Tochter den Rest gegeben. Ich gab lediglich zurück, dass wir nicht in unsere Gäste hineinschauen könnten und die Bestimmungen für alle gleich seien. Dass ich genau genommen die Personalien der Tochter wegen eines versuchten Verstosses gegen die AGB’s hätte aufnehmen und der Verwaltung melden müssen, behielt ich für mich.
Oder der cholerisch veranlagte – seinem Jahresabo nach zu schliessen – Einheimische, dessen Hautfarbe an einen alt-neuen US-Präsidenten erinnerte, und der in Begleitung seines Sohnes unterwegs war. Er enervierte sich, weil ich auf der Fahrkarte des ausgesprochen schüchternen jungen Manns bereits die Endlochung angebracht hatte, obwohl er die Fahrt angeblich hätte unterbrechen und später fortsetzen wollen. In solchen Fällen macht man über das Loch ein Kreuz und darum einen Kreis und schreibt seine Initialen daneben. So auch in diesem Fall, und das Malheur ist behoben. Zumindest objektiv. Denn einige Wochen später wollte es der Zufall, dass der Choleriker, diesmal in Begleitung nicht nur des Sohnemanns, sondern auch seiner Mutter, direkt neben einem guten Bekannten sass. Als ich dessen GA kontrollierte und zum Scherz „Ihr Billett ist ungültig!“ sagte, explodierte der Ekeltyp, duzte mich, beleidigte mich, fotografierte mich und mein Namensschild und kündigte an, sich über mich beschweren zu wollen. Es war so absurd, dass ich lachen musste. Mein Kollege meinte anschliessend, alle drei hätten eine Fahne gehabt.
Kurz vor Ablauf meiner Probezeit hatte ich das dazugehörige Gespräch mit meinen beiden Chefs. Sie äusserten sich insgesamt sehr zufrieden mit mir und merkten nur an, dass ich doch eine Negativmeldung abgeben sollte, wenn ich keine Einteilungswünsche hätte, weil sich manche Kollegen beschwerten, wenn sie ihren Monatsplan sahen. Und obwohl die Verhältnisse bei den Rigi Bahnen sehr überschaubar sind, konnte ich unmöglich bereits alle Zusammenhänge und Abläufe kennen, aber das war eine Frage der Zeit.
Sie wollten auch meinen Eindruck wissen, der ebenfalls sehr gut war. Insbesondere schätzte ich das positive, konstruktive Arbeitsklima, den Teamgeist und die Zusammenarbeit. Jeder hilft dem anderen. Die Rigi-Bähnler waren fast so etwas wie meine zweite Familie. Es gab kaum eine Firma, in der ich mich so wohlgefühlt habe wie bei den Rigi Bahnen. Kein Wunder, dass ich sehr viel positives Feedback bekommen habe. Nicht nur von Vorgesetzten und Kollegen, sondern auch von Gästen. Die Einheimischen und die Stammgäste kannte ich bald, und es dauerte nicht lange, bis man sich duzte und auch über private Dinge austauschte. Einige sind mir richtig ans Herz gewachsen und haben mich an meinem letzten Tag sogar umarmt. Ich hätte nicht gedacht, dass mir der Abschied so schwerfallen würde.
