Auf der bad’sche Eisebahne…

Gewitterstimmung über dem schweizerischen Jura. Dazu farblich abgestimmte Signale😉

Nachdem ihr jetzt wisst, wie man Lokführer wird, wollt ihr natürlich erfahren, wie es so ist, Lokführer zu sein. Soviel schon einmal vorweg: Wir haben zwar viel Routine, aber trotzdem ist kein Tag wie der andere. Auch dann nicht, wenn man mehrmals die gleiche Schicht fährt.

Die Bahndemie

Kaum durfte ich eigenverantwortlich Züge steuern, da schlug das Virus zu. Natürlich war auch die Bahn von der Corona-Pandemie betroffen. Als systemrelevanter Betrieb durften wir zwar während des Lockdowns auch weiterhin fahren, aber mit einem ausgedünnten Fahrplan. Bei uns fiel ungefähr jeder zweite Zug aus. Das bedeutete weniger Schichten und entsprechend mehr freie Tage. Meine altgedienten Kollegen konnten die Zeit zum Abbau ihrer Überstunden nutzen. Ich wurde nur noch auf dem ersten Teil meiner bisherigen Strecke, nämlich von Basel bis Freiburg, eingesetzt und musste jeden Zug dort wenden. Wenn ich nun in Basel die Nummer meines Zuges in unser Fahrgast-Informations-System (FIS) eingab, zeigte es außen am Zug aber „Offenburg“ an. Also mussten wir jeweils Züge heraussuchen, die nur bis Freiburg fuhren, und deren Nummern eingeben. In der Gegenrichtung bei einigen Zügen „Basel Bad Bf“ statt „Basel SBB“. In beiden Fällen stimmten teilweise die Halte nicht überein, und wir mussten einige selbst ansagen. Manche Züge hatten auch Sonderzugnummern, die das FIS gar nicht kannte😧

Ich habe vor jeder Abfahrt die empfohlene Ansage per Mikrofon durchgegeben, wonach die Fahrgäste Mund und Nasen bedecken, nur die Fensterplätze belegen und Abstand halten sollten. Im Desiro hatten wir Video-Innenraumüberwachung, aber nur im Stand. Als ich einmal „gerast“ war und noch eine Minute Zeit bis zur Abfahrt hatte, habe ich mir einen Spaß erlaubt und einen Fahrgast mit der folgenden Mikrofon-Durchsage erschreckt: „Im zweiten Wagen sehe ich eine junge Frau ohne Mund-Nase-Bedeckung. Bitte tragen Sie diese. Vielen Dank.“ Die guckte vielleicht verdutzt😃

Für uns Lokführer war diese Zeit sehr angenehm: Fast leere Züge beschleunigen schneller und bremsen leichter, der Ein- und Ausstieg ging viel rascher vor sich, und vermutlich waren wir nie pünktlicher als in dieser Zeit. Außerdem waren unsere Züge in dieser Zeit viel sauberer. Aber wenn ich an einem leeren Bahnsteig wieder mal eine Bilderbuchlandung hingelegt hatte und auch niemand aussteigen wollte, habe ich mich trotzdem geärgert😉

Meine Einsatzstelle war der Badische Bahnhof in Basel. Der liegt auf Schweizer Gebiet, wird aber von der Deutschen Bahn betrieben. Nun wurde ja die Grenze geschlossen. Als Lokführer bekamen wir einen Passierschein, den ich aber nie wirklich zeigen musste. Die Zöllner waren von meiner Uniform so beeindruckt, dass sie mich jedes Mal durchgewunken haben😉

Zum Schutz der Zugbegleiter fanden keine Fahrkartenkontrollen mehr statt. Wir hatten nur noch ungefähr 10% so viele Fahrgäste wie vorher. Das heißt, die Einnahmen brachen weg. Gleichzeitig sanken die Kosten weit weniger, vor allem auch deshalb, weil niemand in Kurzarbeit geschickt oder gar entlassen wurde. Wenn eine Bahn schon in normalen Zeiten kaum kostendeckend betrieben werden kann, wird klar, dass sich eine Finanzierungslücke, um nicht zu sagen ein Abgrund auftat. Die Rede war von 13,5 Milliarden Euro😲 Zwei Drittel davon sollte der Anteilseigner (der Bund, d.h. der Steuerzahler) aufbringen. Dazu sollte die bereits bis über beide Ohren verschuldete Bahn sowohl weiteres Fremd- und auch Eigenkapital aufnehmen. Die Schulden sollten von 30 Mrd. € auf 35 Mrd. € steigen😲 Ein Drittel wollte die Bahn aus eigener Kraft stemmen. Die Hälfte sollte über Einsparungen beim Sach‑, die andere beim Personalaufwand erfolgen. Das dürfte nach den ganzen bereits erfolgten Sparübungen schwierig werden. Aus einer ausgepressten Zitrone kommt nun mal kein Saft mehr. Gleichzeitig wollte man an der Verkehrswende und an „Deutschland braucht eine starke Schiene“ nicht rütteln.

Womöglich war aber alles nur halb so schlimm. Die großen Konzerngesellschaften müssen ihre Bilanzen offenlegen, die kleineren jedoch nicht. Dazu gehört beispielsweise die DB Systel, die Informatik-Dienstleistungen für DB Netze und DB Regio erbringt. Und das nicht etwa zu Freundschaftspreisen, ganz im Gegenteil. Sie will in Bezug auf Eigennutz nicht hinter DB Energie und DB Netze zurückstehen. Wie das Magazin „Panorama“ des NDR herausfand, verlangt sie bis zum 20fachen der marktüblichen Preise (siehe https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2020/Bahn-zahlte-ueberhoehte-Preise-fuer-IT-Technik,systel100.html. Wozu das Ganze? Damit sich die großen Gesellschaften künstlich arm rechnen, um vom Staat mehr Beihilfen einzuheimsen. Die Konzernleitung hält die Preise für „nachweislich marktüblich“, liefert aber keine Nachweise und wollte sich nicht näher dazu äußern. Ein Dementi klingt irgendwie anders😉

Die Qual der Wahl

Für unsere Arbeit bekamen wir natürlich auch etwas. Unser Grundgehalt lag bei rund 3.000 € brutto. Das war schon einmal nicht schlecht. In unseren Tarifverträgen wurde vereinbart, dass die Arbeitnehmer sich für eines von drei Wahlmodellen entscheiden konnten. Und das sogar gleich zweimal, je für 2020 und 2021:

  1. Eine Gehaltserhöhung von 2,6% (brutto), d.h. je nach persönlichem Grenzsteuersatz bleibt netto davon weniger übrig.
  2. Eine Verringerung der wöchentlichen Arbeitszeit um eine Stunde. Die spürt man nicht wirklich.
  3. Sechs Tage zusätzlichen Erholungsurlaub. Die spürt man😊

Unser Teamleiter riet uns von der dritten Option explizit ab, und wenn viele die zweite gewählt hätten, vermutlich auch davon. Warum? Weil er zu wenig Lokführer hatte. Ich habe mich zweimal für Nummer drei entschieden, und soweit ich weiß, auch die meisten meiner Kollegen. Das heißt, ich hatte 42 bezahlte Urlaubstage pro Jahr😎 Hinzu kamen noch ein paar weitere, siehe unten.

Als Nachteile unseres Berufes könnte man die unregelmäßigen Arbeitszeiten auch an Wochenenden und Feiertagen betrachten. Ich sehe das genau umgekehrt, denn erstens konnte ich an einem freien Tag unter der Woche ohne Gedränge einkaufen, aufs Amt gehen oder Arzttermine wahrnehmen, und zweitens gab es dafür einige Gegenleistungen:

  • Wochenendzulagen
  • Schichtzulagen
  • Ausbildungszulagen („Risikozuschlag“): 12,50 € für eine Schicht, wenn ich einen Quereinsteiger oder Azubi mitnahm
  • Nachtzulagen
  • Zusatzurlaub, d.h. für eine Arbeitsstunde nach 20.00 Uhr gibt es fünf Urlaubminuten zusätzlich. Bei 120 Spätschichten mit durchschnittlich 2½ Nachtstunden sind das drei zusätzliche Urlaubstage im Jahr.

Nachdem die Leitstelle einmal begriffen hatte, dass ich eine Nachteule bin und Spätschichten lieber mochte, konnte ich fast immer ausschlafen. Das bedeutete natürlich, dass ich häufig nach 20.00 Uhr noch unterwegs war. Die längste Schicht dauerte bis 3.28 Uhr. Dafür kassierte ich Nachtzulage. Ich wurde sozusagen fürs Ausschlafen auch noch extra bezahlt😊 Das kommt dem früheren Traumberuf meines Bruders schon recht nahe: Testschläfer für die Bettenindustrie😃

Umso schlimmer, wenn sie mir trotzdem wieder Frühschichten aufdrückten. Die früheste begann um 2.55 Uhr🥱 Einmal hatte ich den Wecker auf 3.30 Uhr gestellt. Wie immer in solchen Fällen schlief ich schlecht und wachte immer wieder auf. Als es wieder einmal soweit war und ich auf den Wecker sah, zeigte er 4.15 Uhr😲 Voller Panik sprang ich auf und schaltete das Handy ein, um die Leitstelle zu informieren. Doch was sahen meine müden Augen da? Die Handy-Uhr zeigte 2.45 Uhr! Im Halbschlaf hatte ich den Wecker falsch abgelesen! Wenn ich dann nach einigen Frühschichten endlich mal wieder ausschlafen konnte, hatte ich mächtig Nachholbedarf. Mein Rekord lag bei 15 Stunden Nonstopschlaf😴

Außerdem waren die Pausenzeiten genau geregelt. Eskimos kennen 37 Bezeichnungen für Schnee. Bei der Bahn verhält es sich mit den Pausen so ähnlich: Da gibt es die normale Ruhepause (RP), die Tätigkeitsunterbrechung (TU), die Standzeit (ST), die Arbeitsbereitschaft (ABer), das Verlassen des Fahrzeugs (AP) und das „D“. Was das heißt, weiß niemand so genau. Ich habe es mir als „Durchhänger“ gemerkt😊

Unsere Dienstpläne sind minutiös. Im wahrsten Sinne des Wortes😉

Nicht immer, wenn ein Zug Verspätung hatte, war die Technik schuld. Einmal traute ich meinen Ohren kaum, als ein Kollege aus unserem Aufenthaltsraum unsere Leitstelle anrief, um ihr mitzuteilen, dass sein nächster Zug sieben Minuten später abfahren würde. Warum? Weil er sonst nicht auf seine ihm zustehenden 30 Minuten Pause gekommen wäre😲 Auf einem Kreuzfahrtschiff hätte er sich so leicht ein Flugticket nach Hause verdienen können😉

Ich wurde immer wieder gefragt, ob wir Eisenbahner privat kostenlos bahnfahren könnten. Eine Bahncard 100 bekamen wir nicht🙁 Aber zumindest 16 kostenlose Tageskarten für den Fernverkehr pro Jahr und vergünstigte Regio-50-Fahrkarten😊 Allerdings galten nicht alle für andere Eisenbahnunternehmen. Ich finde, es wäre auch im Sinne der Verkehrswende wesentlich benutzerfreundlicher, wenn alle Verkehrsbetriebe ihre Fahrkarten gegenseitig anerkennen würden.

Doppelt genäht hält schlechter

Bei der Bahn gab es traditionell zwei Gewerkschaften:

  1. die Gewerkschaft der Lokführer (GdL). Wie der Name bereits sagt, vertritt sie die Interessen von unsereinem, und das nicht eben leise.
  2. die Eisenbahner- und Verkehrsgewerkschaft (EVG, früher GdED). Sie vertritt traditionell die Zugbegleiter, das Bahnhofs- und das Büropersonal.

Trotz der Einschwörung auf einen harten Sanierungskurs des DB-Vorstands und einer neuen Rekordverschuldung von mehr als 30 Milliarden Euro haben die 3500 Führungskräfte im DB-Konzern Boni für das Jahr 2020 erhalten. ©Heiko Sakurai

Die beiden Gewerkschaften sind einander alles andere als grün. Im Corona-Jahr 2020 hat die EVG im Rahmen des „Bündnis für unsere Bahn“ einer Lohnerhöhung von 1,5% zugestimmt. Mit der GdL wurde keine Einigung erzielt, und auch die Schlichtung scheiterte. Sie bezeichnete die EVG sogar als „Einkommens-Verminderungs-Gewerkschaft“. Die Deutsche Bahn AG kündigte daraufhin an, sich künftig an das Tarifeinheitsgesetz (TEG) zu halten, das ihr erlaubt, nur jeweils mit der mitgliederstärksten Gewerkschaft verbindliche Tarifverträge aushandeln zu müssen. Das ist je nach Konzerngesellschaft mal die eine, mal die andere. (Die Anzahl der Mitglieder rechtsverbindlich festzustellen, ist ein Problem für sich.) Die GdL fühlte sich ausgebootet und sah den Moment gekommen, sich ebenfalls für alle Nicht-Lokführer zu öffnen, um die „Konkurrenz“ zahlenmäßig zu übertrumpfen und die Verhandlungen künftig allein führen zu können. Ob der Plan aufgeht oder nicht, eines ist sicher: Es bleibt spannend.

Die Blitzableiter der Bahn

Genauso händeringend wie Lokführer werden Kundenbetreuer im Nahverkehr (KiN) gesucht, auch Zugbegleiter genannt. Ehrlich gesagt wollte ich den Job nicht machen. Sie dienen als Prügelknaben, wenn ein Zug Verspätung hat, und werden angepöbelt oder sogar angegriffen, wenn sie jemanden ohne Fahrkarte erwischen. Von den 60 € Fahrpreis-Nacherhebung bekommen sie gerade mal ein paar Cent. Kein Wunder fuhren viele KiN’s lieber bei uns Führerstand mit, als sich mit den Fahrgästen herumzuärgern.

Mindestens einer macht den Job nicht ganz freiwillig, dürfte aber dennoch froh darum sein. Er war ursprünglich Lokführer gewesen, bis er in Gengenbach in Gedanken bei seiner bettlägerigen Frau war und mit 113 km/h auf dem Gegengleis über eine Weiche fuhr, die nur bis 60 km/h freigegeben war. Es kam glücklicherweise nur zu einer Überpufferung, und die Wagen sind nicht umgekippt. Als Folge wurde er in den Rangierdienst versetzt, bis er eine Gleissperre überfuhr und die Lok in den Schotter setzte. In der freien Wirtschaft wäre er längst entlassen worden, aber da er Familie hat, gab die Bahn ihm auch noch eine dritte Chance.

Noch lächelt die Dame😉

Einer saß mal auf dem Notsitz hinter mir. Als ich ihm sagte, dass er seinen Sicherheitsgurt nicht tragen würde, schaute er etwas belämmert aus der Wäsche😃 Mit einem anderen unterhielt ich mich darüber, was unsereins vorher gemacht hat. Als ich verriet, dass ich ursprünglich Betriebswirtschaft studiert hatte, meinte er, dann wüsste ich ja, wie man einen Bauernhof bewirtschaftet😃

Ausgequellt

Weil das Land auch vorgibt, wie viele Züge mit Zugbegleitern besetzt sein müssen, wird natürlich eine Strafe fällig, wenn die Quote nicht erfüllt wird. Um diesem Dilemma zu entrinnen, sollten nun Mitarbeiter einer privaten Security-Firma namens Stölting nach einer Kurzausbildung als Zugbegleiter mitfahren. Der Vorteil für die Bahn: Falls diese krankfeiern, muss die Drittfirma gegenüber der Bahn dafür geradestehen und nicht mehr die Bahn selbst. Weil im Rheintal alle Züge mit Zugbegleitern besetzt sein sollen, mussten diese sich vor der Abfahrt bei uns melden. Taten sie es nicht, mussten wir ihr Fehlen unserer Leitstelle weitermelden. Es wäre weniger Aufwand gewesen, wenn wir umgekehrt die An- statt Abwesenheit der externen Kollegen hätten melden können😉

Wenn sie dann an Bord waren, legten sie gerne auf dem hinteren Führerstand die Füße hoch, statt ihre Arbeit zu machen. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Umso erstaunlicher, dass einer etwas übereifrig war. Für einen Schwarzfahrer bestellte er die Bundespolizei nach Freiburg, die diesen dort zu dritt in Empfang nahm. Einige Kilometer weiter rief er mich erneut an: Ich solle die Landespolizei nach Heitersheim schicken. Das könne er nicht selbst. Ich rief wie vorgeschrieben den Fahrdienstleiter an, der die Notfallleitstelle und die wiederum die Polizei. Es ging um eine alkoholisierte junge Frau ohne Fahrschein und ohne Maske, die auch noch ausfallend wurde. Wir standen 21 Minuten in Heitersheim, bis die Beamten eintrafen, und weitere sechs Minuten, bis ich weiterfahren konnte. Ohne die besagte Frau. Zum Glück war es 1.00 Uhr früh, und wir hatten nicht mehr viele Fahrgäste an Bord. Zwei davon stiegen aus und radelten die letzten 8,5 km nach Müllheim. Ein paar Tage später stand die Schwarzfahrerin wieder auf dem Bahnsteig. Möglicherweise mit Fahrschein, aber wieder ohne Maske. Und ein Kollege des „Übereifrigen“ teilte mir ein paar Tage später mit, dass jener jetzt im Gefängnis säße. Offenbar war er auch bei einer Kollegin übereifrig gewesen😉

Besonders interessant fand ich, dass zunächst niemand für die Maskenpflicht zuständig war. Die Bahn fand, für behördliche Anweisungen seien Behörden- und nicht Bahnmitarbeiter zuständig. Das Bundesverkehrsministerium teilte diese Auffassung. Da es sich aber um eine Vorschrift der Länder handelte, sah die Bundespolizei keinen Handlungsbedarf. Gleichzeitig haben die Polizeibehörden der Länder nichts mit dem Bahnverkehr zu tun, denn der ist Sache der Bundespolizei…

Strotzen vor Kraft

Zuerst fuhr ich nur lokbespannte Züge. Die vierachsigen Loks hatten die Baureihe 146.2 und waren vom kanadischen Hersteller Bombardier. Ihre Leistung betrug 5.600 kW (für Banausen: 7.600 PS). Hingen keine Wagen dran, musste man den Fahrhebel vorsichtig nach vorne legen, um nicht vorwärts katapultiert zu werden😉 Andere legen sechsstellige Beträge auf den Tisch, um mit lächerlichen 500 PS herumzukurven, während ich für das Bändigen weit größerer Leistungen auch noch bezahlt wurde😃

Allerdings genügten ein paar Wassertropfen auf den Schienen, um den ohnehin geringen Reibungskoeffizienten von Stahl auf Stahl so weit zu verringern, dass man nur noch einen Bruchteil der Antriebskraft nutzen konnte. Lag der Halt dann auch noch im Gleisbogen, wie in Rheinweiler und in Istein, war auch noch die Gewichtsverteilung ungleich, was den nutzbaren Vortrieb weiter verringerte. Gab man zu viel Schub, ratterte die Lok so stark, dass man den Fahrhebel sofort wieder zurücknahm😲

Hingegen war die Bedienung über die Computerdisplays sehr benutzerfreundlich, auch wenn das Betriebssystem Windows 95 nicht mehr Stand der Technik war. Die Loks verfügten sogar über die Automatische Fahr- und Bremssteuerung (AFB, „Altherren-Fahr-Betrieb“), so etwas wie einen Tempomaten. Zusammen mit der LZB ermöglichte sie teilautonomes Fahren. Allerdings kannte die LZB nur die Strecke und nicht den Fahrplan, so dass das Ganze nur bis zum Freiburger Hauptbahnhof funktionierte, wenn die LZB dort einen Halt vorgab. Davon abgesehen fuhr sie etwas „eckig“. Das konnte jeder Lokführer-Novize besser😉

Blick auf meinen ehemaligen Arbeitsplatz, den Führerstand einer 146er Lok, hier im Bahnhof Freiburg.

Der größte Nachteil der 146.2 war die sehr störungsanfällige LZB-Ausrüstung EBICAB 2000. Vermutlich hatte Bombardier günstiger angeboten als Siemens, die die Serie 1 mit einem sehr viel robusteren LZB-System ausgerüstet hatten. Zweimal innerhalb weniger Tage hatte ich einen LZB-Rechnerabsturz im Freiburger Hauptbahnhof. Genau an der gleichen Stelle, wo sich die LZB-Antenne direkt über einer Kreuzung der Linienleiter befindet.

Und Regen mochte sie überhaupt nicht. Sobald die Räder nur leicht gleiteten oder schleuderten, konnte das die LZB völlig aus der Fassung bringen. Einmal hatte ich zwischen Freiburg und Müllheim (30 km) drei LZB-Rechnerabstürze. Da wurde es der Fahrdienstleiterin zu bunt, und sie wies mich an, die LZB abzuschalten und signalgeführt weiterzufahren. Was passierte? Ein paar Kilometer weiter vergaß ich, bei der Vorankündigung der Geschwindigkeitsherabsetzung auf 70 km/h die „Wachsam“-Taste zu betätigen (was im LZB-Betrieb nicht erforderlich ist), worauf ich eine Zwangsbremsung kassierte😧

Der Zugsicherungsschrank, sozusagen der Kern des Problems. Noch leuchtet das Lämpchen grün😉

Aus drei Gründen fuhr ich trotzdem lieber Lok voraus:

  • Erstens wusste ich genau, wann ich über einer Weiche oder bei Regen unter einer Brücke war, und konnte die Leistung entsprechend zurücknehmen, um Schleudern zu vermeiden.
  • Zweitens verfügte die Lok über den praktischen Zuglängenzähler: Bei der Einfahrt in einen Haltepunkt drückte ich am Anfang des Bahnsteigs zweimal die Taste auf dem Fahrhebel. Im Display wurde die Zuglänge nach unten abgezählt, so dass ich genau wusste, wie weit ich vorfahren und wo ich anhalten musste, damit die letzte Tür noch am Bahnsteig war.
  • Drittens war ich 20 m von den Fahrgästen entfernt, so dass sie nicht einfach an die Tür des Führerstands klopfen konnten, um sich zu beschweren😉

Die Loks waren bei uns immer am südlichen Ende der Züge angekuppelt.

Gezogen und geschoben

Nordwärts fuhren wir Steuerwagen voraus. Das heißt, wir hatten Heckantrieb. Mich faszinierte immer, dass die Wagen dabei nicht aus den Gleisen sprangen. Zumindest haben sie das bei unserer Märklin-Bahn immer gemacht😉 Unsere Kollegen von Fernverkehr fahren sogar mit elf Wagen Tempo 200 mit dem Steuerwagen voraus😲 Die Bedienung war fast gleich wie auf der Lok, aber es gab einige Unterschiede. Zunächst einmal reagierte der Zug sowohl auf das Aufschalten als auch auf das Bremsen viel träger. Wenn ich bei 110 km/h die Leistung abschaltete, beschleunigte der Zug noch auf 120 km/h, bevor ich mit Bremsen anfangen konnte. Tat ich es vorher, würgte ich die Lok ab und riskierte eine Zugtrennung. Dafür sollten die vorauslaufenden Wagen bei Regen die Schienen trocknen, so dass die Lok weniger schleuderte, aber das konnte ich nicht bestätigen. AFB und Zuglängenzähler gab es hier nicht. Unser elektronischer Fahrplan war auf dem Steuerwagen in der Regel zeitgesteuert und lief weiter, selbst wenn man unterwegs liegenblieb. Dann musste man die Verspätung manuell eingeben, damit er wieder die richtige Position fand.

Die Scheibenwischer wurden nicht elektrisch, sondern mit Druckluft angetrieben und knallten auf beiden Seiten mit voller Wucht auf die Begrenzer, so dass sie gerne mal abbrachen. Als das einmal eintrat, hatte man weder den Wischer repariert noch den Wagen ausgetauscht, sondern kurzerhand eine zweite Lok davorgespannt. Was dazu führte, dass wir bei der Wende in Offenburg nur die ersten fünf Meter fahrplanmäßig zurücklegten, bevor die Traktion aussetzte. Nach einem Anruf bei der Hotline ging es mit 24 Minuten Verspätung weiter, und auch dann nur bis Emmendingen statt bis Freiburg.

Wir hatten drei verschiedene Steuerwagen:

  • Der neueste der Baureihe 766 hatte die gleichen Displays wie die Lok und fuhr sich genauso angenehm. Nur die Klimaanlage dröhnte in allen Steuerwagen wie der Maschinenraum in der Lok.
  • Der 765 hatte die altmodische Auf-ab-Steuerung des Fahrhebels, mechanische Rundinstrumente und konventionelle Leuchtmelder. Da musste man sich daran erinnern, dass Wechselblinken des 70er- und des 85er-Leuchtmelders Geschwindigkeitsüberwachung bedeutet. Einen 25er- oder 45er-Leuchtmelder einzubauen wäre ja auch zu einfach gewesen😉 Bei einem 765er klapperte und rumpelte eine Lüfterklappe lautstark über dem Führerstand. Ein Kollege trug das pflichtgemäß ins Übergabebuch ein. Antwort der Werkstatt: „Ertragen bis zur Verschrottung“😃 Ein anderer 765er mochte den Haltepunkt Istein so sehr, dass er ihn jeweils doppelt ansagt: einmal vor und einmal nach dem Halt😉
  • Die Krönung war aber der Steuerwagen der Baureihe 761 aus dem letzten Jahrhundert. Er hatte dermaßen trübe Funzeln, dass man die Kilometertafeln kaum sah, d.h. ohne Fernlicht war man im Blindflug🥺 Und mit Fernlicht musste man zusätzlich darauf achten, dass man entgegenkommende Züge nicht blendete. Weil es damals noch kein GPS gab, wusste das Fahrgast-Informations-System auch nicht, wo sich der Zug gerade befand, und musste jedes Mal mit einem Knopfdruck dazu aufgefordert werden, den nächsten Halt anzusagen.

Der eisenbahnhistorisch interessante Führerstand eines 761er-Steuerwagens.

Zwischen Lok und Steuerwagen hingen drei oder vier „normale“ Doppelstockwagen. Die waren 24 Jahre alt und entsprechend durchgenudelt. Beim Zugabschluss blinkte im Schaltschrank immer gerne mal der rote Störungs-Leuchtmelder. Dann musste man im Bordbuch einen Meldezettel ausfüllen und einen Elektronischen Zugbericht (EZB) an die Fahrzeug-Disposition senden. Die häufigsten Mängel waren WC-Störungen und heißgelaufene Verdichtermotoren der Klimaanlagen. Und das bereits im April… Bei meiner Zugvorbereitung um 4.30 Uhr früh öffnete eine Tür meines hintersten Wagens mit letzter Kraft und lief gerade noch zu. Dann ging gar nichts mehr. Das Fehlerdisplay zeigte „Steuerleitung der Energieversorgung des Wagens gestört“. Als Lokführer musste man auch in neuen und ungewohnten Situationen wissen, was zu tun war. Ich habe alle fünf Türen abgesperrt und entsprechende Kleber angebracht. Einmal habe ich es miterlebt, dass in einer Toilette eine Leuchtröhre explodiert ist😲

Die roten Doppelstockwagen wären früher ausrangiert worden, weil sie durch die verspäteten Mireos ersetzt werden sollten. Weil DB Regio fest mit dem pünktlichen Einsatz der neuen Fahrzeuge gerechnet hatte, wurde aus Kostengründen an Wartung und Instandhaltung der alten Wagen gespart. Das erklärte dann auch deren teilweise erbärmlichen Zustand. Als im Juli wieder einmal einer der roten Leuchtmelder blinkte und ich wie gehabt nicht nur einen elektronischen Zugbericht (EZB) schicken, sondern auch einen Meldezettel im Bordbuch ausfüllen wollte, sah ich, dass ich selbst den gleichen Defekt in ebendiesem Wagen bereits im März und im Juni gemeldet hatte. Die Werkstatt hatte dies lediglich mit „Fehler bekannt“ quittiert. So entstand ein Teufelskreis: Warum Mängel melden, wenn sie nicht behoben werden? Und wenn sie nicht gemeldet werden, können sie logischerweise auch nicht abgestellt werden…

Schwarz vor Augen

Der EZB war eine Funktion unserer Smartphone-App RIS. Zu jedem Schaden an einer Lok, einem Wagen oder einem Triebzug musste man logischerweise die dazugehörige Fahrzeugnummer eingeben. Bei den Wagen und den 463ern klappte das. Aber wenn man die zwölfstellige Nummer einer Lok oder eines 462er-Triezugs eingeben wollte, änderte RIS die Nummer ständig selbstständig und sprang woanders hin. Es war die reinste Geduldsprobe. Die nicht jeder bestand, was wiederum die Meldequote nicht unbedingt erhöhte☹

Der Bildschirm der neuen Tablets mit den La (Langsamfahrstellen), den man während der Fahrt offen vor sich liegen haben muss, wurde spätestens nach 30 Minuten schwarz. Nein, man konnte die Zeit weder verlängern noch die Abschaltung ausschalten. Um ihn wieder zu erhellen, musste man zu allem Überfluss auf der kleinen virtuellen Tastatur den mindestens sechsstelligen Zahlencode und das „OK“-Feld treffen. Wenn es während der Fahrt rattert und rumpelt, ist das gar nicht so einfach😉

Noch schlimmer beim RIS. Es zeigte die aktuelle Position des Zuges, die aktuelle Verspätung, das Einfahrtgleis am nächsten Halt und aktuelle Informationen, z.B. ob wir Anschlüsse abwarten mussten oder Rollstuhlfahrer mit dabei hatten, die Hilfe beim Ein- oder Ausstieg benötigten. So wichtig und wertvoll diese Angaben waren, so sinnlos war die Vorschrift, dass das Diensthandy während der Fahrt nicht auf dem Führerpult liegen durfte, sondern verstaut werden musste. Deshalb gab es auch zahlreiche Lokführer, die diese Vorschrift ignorierten. Was wiederum die Bahn dazu bewog, ihnen in die Suppe zu spucken, indem die maximale Zeit, bevor der Bildschirm abschaltete, auf 15 Minuten verkürzt wurde. Um RIS dann wieder zu sehen, musste man sowohl den sechsstelligen selbstgewählte Entsperrcode plus „OK“ auf dem noch viel kleineren Handydisplay und danach auch noch den vierstelligen PIN-Code der SIM-Karte eingeben. Und das bei Tempo 160…

Mein Verbesserungsvorschlag, die zwangsweise automatische Bildschirmabschaltung wieder abzuschaffen, wurde unter Verweis auf die (sinnlose) Vorschrift abgeschmettert. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis ein schwerer Unfall passiert und die anschließende Untersuchung ergibt, dass der Lokführer abgelenkt war, um seinen Zahlencode an seinem Endgerät einzugeben☹ Spätestens dann wird man sich überlegen, ob die Sicherheit des Zuges nicht vielleicht doch wichtiger ist als diejenige eines elektronischen Endgeräts.

Desastro …

Unsere Kollegen auf der Hochrheinbahn Basel-Waldshut-Singen-Friedrichshafen fuhren mit Dieseltriebzügen und -wagen (VT’s) der Baureihen 612, 641 und 644. Sie berichteten von Motoren, die ausfielen, Feststellbremsen, die während der Fahrt von selbst anlegten, und Bodenblechen im Fahrgastraum, die durchgerostet waren. Wir hatten 42 612er-Triebzüge. Einmal waren 28 davon einsatzfähig. Die waren so alt, dass es dafür schon keine Ersatzteile mehr gab, so dass wir sie kannibalisieren mussten. Ersatz war zwar angedacht, ließ aber bis Ende 2021 auf sich warten.

Auf der Rheintalbahn hatten wir es besser: Zum Fahrplanwechsel im Juni 2020 wurden die alten Steuerwagenzüge unserer RE‘s teilweise durch brandneue Triebzüge des Typs Siemens Desiro HC abgelöst. Sie hatten die Baureihe 462 und bestanden aus zwei angetriebenen Endwagen und zwei doppelstöckigen Mittelwagen. Die Meinungen der Kollegen waren geteilt: Die einen beschwerten sich, dass sie auf Triebzügen keine richtigen Lokführer mehr, sondern nur noch S-Bahn-Fahrer seien. Als ob es im Steuerwagen nicht schon so ähnlich gewesen wäre. Unsere offizielle Bezeichnung lautete denn auch nicht Lok-, sondern Triebfahrzeugführer. Die anderen freuten sich, wenn die neuen Fahrzeuge ihnen durch diverse Automatikfunktionen die Arbeit erleichterten😊 Vor allem die aufwendige volle Bremsprobe ging fast automatisch, und unsere antiquierten Zugdatenzettel waren jetzt Altpapier. Durch die elektropneumatische Bremse bremsten sie viel spontaner. Dank automatischer Haltebremse konnte der stehende Zug nicht mehr wegrollen. Die Kupplungen waren automatisch. Und wir hatten WLAN an Bord😊 Manchmal funktionierte es sogar😉

In Basel, Freiburg und Offenburg gab es nicht genug freie Gleise. Deswegen mussten die neuen Siemens Desiro HC vor ihrem fahrplanmäßigen Einsatz in Hausach im Schwarzwald geparkt werden.

Für die neuen Züge mussten wir neue Ausdrücke, Abkürzungen und eine neue Sprache lernen: Denglisch🙁 Beispielsweise MSDO für „Manual Selective Door Opening“. „Türwahl“ wäre ja auch zu einfach gewesen😉 Mein Lieblingsausdruck war „SP CS“. Das steht für „SiBAS ProFiNet CS“, was wiederum „Siemens Bahnautomatisierungssysteme Process Field Network Control System“ heißen sollte😲 Denjenigen, der sich das ausgedacht hat, hätte ich gerne mal getroffen. Und ihn gefragt, warum er das Ganze nicht einfach „Steuerungsrechner“ oder so genannt hat😉

Das ginge ja alles noch, aber die neuen Züge hatten auch einige Nachteile: Anders als in unseren Steuerwagen gab es keine USB-Anschlüsse im Führerstand. Vor allem aber fehlte der Zuglängenzähler. Es gab zwar einen Tempomaten, aber der war erstens nicht mit der LZB verbunden, und man konnte ihn zweitens nur in Fünferschritten einstellen. Wenn ich also vor der Abfahrt 160 km/h einstellen wollte, musste ich 31mal auf den Bildschirm tippen. Finger drauflassen funktionierte nicht. An solchen Dingen merkte man, dass die Fahrzeuge von Ingenieuren gebaut wurden, die sie anschließend nicht fahren (mussten).

Fast die gesamte Bedienung erfolgte über Touchpads. Die waren allerdings nicht nur langsam, sondern auch ziemlich unsensibel. ESF (energiesparende Fahrweise) wurde nur angezeigt, wenn ein langsamer Zug vorneweg tuckerte, aber nicht, wenn man dem Fahrplan mal voraus war, weil der EBuLa die Baureihe des Zuges nicht kannte🙁 Der Innenraum war videoüberwacht. Sinnvoller wären Außenkameras gewesen, möglichst an Teleskop-Armen, damit wir auch in Linkskurven den Zug hätten überblicken können. Dann hätten wir nicht bei jedem Halt aufstehen und den Kopf zum Fenster hinausstrecken müssen. Und man hätte sie während der Abstellung zur Graffiti-Überwachung einsetzen können (siehe unten). Oder zumindest Außenspiegel, so wie sie einige unserer Dieseltriebwagen hatten.

Die Bremsabsperrhähne waren in Kästen unter den Motorwagen untergebracht. Da kann man nur hoffen, dass man sie nie öffnen muss, wenn man am Bahnsteig steht. Dafür waren die Hemmschuhe im Innenraum unter den Podesten mit den Sitzen verstaut. Die sollten eigentlich nicht Rollstühle oder Kinderwagen, sondern den Zug vor dem Wegrollen sichern.

Und die Rollstuhlrampe war nicht wie bei unseren Steuerwagen elektrisch, sondern voll mechanisch und noch dazuhin mitten im Wagen untergebracht, so dass man das schwere Ding von Hand zur Tür schleppen, aufklappen und richtig hinlegen musste😧 Sehr zur Freude unserer zierlichen Kolleginnen😉 Wer nicht aufpasste, konnte sich beim Auf- oder zuklappen leicht die Fingerkuppe quetschen. Nach dem Aus- oder dem Einstieg des Rollstuhlfahrers dasselbe rückwärts. Das hieß, wir machten mit mobilitätseingeschränkten Reisenden kaum weniger Verspätung als zuvor.

Die Führerstände waren die reinsten Kühlkammern🙁 Man konnte die Temperatur zwar einstellen, und je nach Zug lag das Maximum bei 24,9°C und 26,9°C. Gefühlt waren es 10°C weniger. „Klima mit manueller Lüftung“ und „Nur Lüften“ waren genauso kalt.

Während bei unseren lokbespannten Zügen naturgemäß nur vier Achsen angetrieben waren, waren es bei unseren vierteiligen Triebzügen acht, und leichter waren sie auch. Das heißt, dass die Räder bei Nässe weniger schleuderten. Am besten hatten es unsere Kollegen von der Höllental- und der Kaiserstuhlbahn: Ihre 1440er-Triebzüge von Alstom hatten in der dreiteiligen Ausführung Allradantrieb. Davon konnten wir auf der Rheintalschiene nur träumen. Zumal Siemens beim Desiro aus unerfindlichen Gründen sogar den umgekehrten Weg gegangen ist: Forderte man weniger als die Hälfte der maximalen Leistung an, schaltete er nur einen der beiden Motorwagen auf. Offenbar war keiner der beteiligten Konstrukteure je damit auf schlüpfrigen Schienen gefahren, denn dann musste man unlogischerweise mehr als die halbe Maximalleistung aufschalten, damit der zweite Motorwagen mit antrieb und sich die Antriebsleitung sich nicht nur auf vier, sondern auf zumindest acht der 16 Radsätze verteilte.

In Rheinweiler durften wir in Fahrtrichtung Süd wegen des niedrigen Bahnsteigs bei den neuen Zügen nur die ersten beiden Türen freigeben, und auch das nur, wenn ein Zugbegleiter im Zug oder auf dem Bahnsteig war (siehe oben), der den Fahrgästen beim Ein- und Aussteigen helfen konnte. Theoretisch sollten alle Züge einen haben, aber wenn nicht, fiel der Halt aus🙁 Zumindest der eine Fahrgast, der mich vorbeirauschen sah, machte ein ziemlich verdutztes Gesicht. Und wenn ich dann einmal halten durfte, wussten die Fahrgäste auf dem Bahnsteig nicht, dass sie nur in den ersten Wagen einsteigen konnten, bis ich sie per Außenlautsprecherdurchsage informiert hatte. Ein halbes Jahr nach Inbetriebnahme der neuen Züge wurde der Bahnsteig endlich erhöht. Zumindest vorne für die ersten beiden Türen. Zehn Monate später hatte der ganze Bahnsteig endlich die richtige Höhe. Aber bis die Weisung aufgehoben wurde, wonach wir nur die beiden vordersten Türen öffnen durften, vergingen weitere zwei Monate.

Meine erste Schicht mit den neuen Triebzügen ging weniger schlecht als erwartet😉 Ich war absichtlich eine halbe Stunde früher am Zug gewesen, weil ich bereits geahnt hatte, dass es nicht reibungslos laufen würde:

  • Ein Wagen war bereits wieder versprayt😕
  • Das Command and Control Display war gestört.
  • Das Fahrgast-Informations-System hatte sich aufgehängt und wollte meine Zugnummer nicht fressen. Auf den neuen Zügen war es nicht GPS-, sondern weggesteuert. Das heißt, wenn ich es bereits auf dem Abstellgleis einstellte, sagte es die Halte immer zu früh an.
  • Der elektronische Fahrplan kannte die Baureihe meines Zuges nicht😉

Ohne Anruf bei der eigens eingerichteten 462er-Hotline wäre ich aufgeschmissen gewesen. So aber konnte ich alle Probleme lösen und bin pünktlich weg- und in Offenburg angekommen. Die Rückfahrt begann in Karlsruhe. Die automatische Ansage unseres Fahrgast-Informations-Systems sagte nicht nur den jeweils nächsten Halt, sondern an Knotenbahnhöfen zusätzlich die Anschlüsse und bei jedem Halt auch das Zugziel an. Fuhr man nach Basel, war das kein reines Vergnügen:

Den Kurs „verständliche Ansagen“ hat die Dame noch vor sich😉

Eine Zeit lang war eine bekannte Bäderstadt so groß in Mode, dass sie wie folgt angesagt wurde:

Es wäre zu schön gewesen, aber ach: Die Desiros erwiesen sich bereits nach zwei Wochen als sehr anfällig. Bremsstörungen waren der „Klassiker“. Um sie wegzubekommen, mussten wir jeweils eine volle Bremsprobe machen. Die ging zwar fast von selbst, dauerte aber gut vier Minuten. Die erste Softwareversion stürzte täglich um 5.00 Uhr morgens ab. Nach der Umstellung auf Winterzeit um 4.00 Uhr. Bei manchen Zügen, insbesondere in Doppeltraktion, fiel die Zugzielanzeige aus. Die Schwanenhalsmikrofone in mehreren Zügen ließen nach kürzester Zeit bereits die Köpfe hängen oder brachen ganz ab. In fast allen Zügen war mindestens eines der beiden WCs unbenutzbar. Offenbar weil die Sensoren der Tanks verdreckt waren und falsche Werte lieferten. Einmal hatte ich einen Fehlalarm des Brandmelders. Nach ein paar Mal hin- und herwischen versagte an meinem Zug der Scheibenwischer. Im Regen natürlich schlecht☹ Dabei war der Karren noch keine 5.000 km gelaufen, und auch die vermutlich zur Hälfte in der anderen Fahrtrichtung und überwiegend bei trockenem Wetter. Auf der Lok hatten wir für Notfälle einen Hilfsluftpresser, dessen Leistung ausreichte, um den Bügel zu heben. Beim Desiro wurde dieser eingespart und – kein Witz! – durch eine Fußluftpumpe ersetzt😲

… und Misereo

Gleichzeitig mit dem Siemens Desiro sollten wir den „kleinen Bruder“ Mireo (Baureihe 463) für unsere RB’s bekommen. Während der Desiro bereits zuvor bei anderen Eisenbahn-Verkehrsunternehmen in Betrieb gewesen war, waren wir die Ersten, die Mireos kauften. Deshalb hatte er zahlreiche Kinderkrankheiten. Zuerst einmal mussten alle ausgelieferten Züge wegen Softwareproblemen ins Werk zurück. Mit viereinhalb Monaten Verspätung wurden sie dann eingeschert. Das ist Bahnsprech für „in Betrieb genommen“.

So ein Mireo hatte drei Wagen und vier Drehgestelle, von denen zwei angetrieben waren. Er war 70 m lang. Gemäß den Vorgaben des Landes Baden-Württemberg konnten wir drei Züge zusammenkuppeln. Nun waren aber manche unserer Bahnsteige kürzer als 210 m. Deshalb hängte man nach lautem Wehklagen meiner Kollegen in jedem Führerstand eine Tabelle, bei welchem Haltepunkt die beiden hintersten Türen oder der ganze letzte Zugteil abgesperrt werden musste. Das wurde manchmal automatisch angesagt, aber wenn nicht, mussten wir es machen, und wenn sich ein Fahrgast lieber aus seinem Kopfhörer beschallen ließ, konnte er bei seinem Halt schon mal eingesperrt sein.

Desiro und Mireo stammten bekanntlich vom gleichen Hersteller, nämlich Siemens. Umso unverständlicher deshalb die Unterschiede zwischen beiden Modellen:

  • Im einen Fahrzeug waren Fahrplan und Schloss für die Aktivierung des Führerstands links und der Fahrtrichtungsschalter rechts, im anderen war es genau umgekehrt. In den 90er-Jahren war man mit dem Einheitsführerstand schon einmal weiter gewesen. Es dürfte auch die Sicherheit nicht erhöhen, wenn der Lokführer im Notfall beispielsweise zuerst die Hupe suchen musste🙁
  • Sogar die Knöpfe für die Türfreigabe bzw. deren Rücknahme hatten unterschiedliche Farben.
  • Nicht einmal die Sprachregelung war gleich: Im einen Fahrzeug hieß es „Multiple Selective Door Opening“, im anderen „Selektive Türfreigabe“. Was in der Lok das Maschinentechnische Display (MTD) gewesen war, wurde jetzt je nach Fahrzeug Technisches Diagnose-Display (TDD) oder Bedien- und Diagnosedisplay (BuD) genannt.
  • Aus ungeklärten Gründen besaßen die Mireos innenliegende Radlager. Das heißt, dass unsere Heißläufer-Ortungsanlagen an der Strecke sie nicht überwachen konnten. Siemens wusste das natürlich und hat deswegen Sensoren eingebaut. Weil die aber versagen können, gehörte zur Ausrüstung auch ein Infrarot-Thermometer, mit dem man notfalls unter den Zug kriechen durfte. Dessen Vorhandensein musste bei jedem Vorbereitungsdienst überprüft werden. Fehlte es, durfte der Zug nicht fahren. Als die Heißläufer-Überwachung bei mir tatsächlich einmal ausgefallen war, durfte ich statt 160 km/h nur noch 120 km/h schnell fahren.
  • Während man beim Desiro für die Nachtabstellung fast nur den Schlüssel umdrehen musste und gehen konnte, war der Abschlussdienst beim Mireo völlig praxisfremd. Er führte nämlich beim Herunterfahren sämtliche Selbsttests aus, die mehrere Minuten dauerten. Laut Dienstplan musste man abwarten, bis die Meldung „Ruhebetrieb verläuft störungsfrei“ erschien. Aber welcher Lokführer, der nach Hause zu Frau, Familie und Fernseher möchte, macht das? Ging er vorher, und erkannte der Mireo eine Störung, hatte der Kollege, der den Zug am nächsten Morgen vorbereiten sollte, ein Problem🙁
  • Während beim Desiro die Leitungsschutzschalter (LSS), die man im Störungsfall schon mal aus- und wieder einlegen musste, im Schaltschrank im Führerstand hinter einer Tür untergebracht sind, wo man leicht drankam, waren sie im Mireo unter den Deckenklappen im Fahrgastraum eingebaut. Man stelle sich vor, wie ein gestresster Lokführer vor den Blicken der genervten Fahrgäste die Bockleiter hervorholt, durch den überfüllten Zug eilt, den Spezial-Exzenterschlüssel vom hinteren Führerstand holt, die schwergängigen Schrauben löst, wobei ihm die Klappe leicht auf den Kopf fallen kann, den richtigen Schalter sucht, aber nicht findet, und anschließend die Klappe nicht mehr zukriegt, weil sie sich verwindet…

Und das konnte durchaus passieren. Gleich bei meinen ersten 463er-Schichten traten die folgenden Probleme auf:

  • gestörte Toiletten, was insofern ein Problem war, weil jeder Zug nur eine hatte.
  • ein abgestürztes Fahrgast-Informations-System
  • herausgefallene Fensterrahmen in beiden Führerständen😲
  • eine nicht lösbare Zwangsbremsung beim Aufrüsten. Ich musste den Zug noch einmal komplett totmachen.
  • Türstörungen wegen einer angeblichen „Fremdeinspeisung“
  • eine ausgefallene Innenraumgondel für Zugziel, Datum und Uhrzeit
  • ausgefallene Heizungen für den Fahrgastraum

Manche Störungen sind so schwerwiegend, die sind sogar Phantomstörungen:
Der Mireo hat gar keine Schiebtrittauswahl
😃

Wenn man unsere bisherigen Lok-bespannten Züge mit Bussen vergleichen konnte, dann waren die Desiros Limousinen und die Mireos Sportwagen: Da sie leichter waren, beschleunigten sie deutlich schneller, vom Bremsen ganz zu schweigen, und alle liefen 160 km/h schnell. Man kann es freilich auch so sehen: Das Fahren lokbespannter Züge war noch echtes Handwerk, während man auf den Triebzügen eher rollende Computer bediente. Immerhin hatten sie nicht nur eine Führerstands-, sondern auch eine Fußboden-, eine Fußnischen- und für die Generation 60+ sogar eine Sitzheizung😊

Mit dem Rotstift konstruiert

Es ließ sich nicht leugnen: Die Fahrzeuge wurden so billig wie möglich konstruiert. Natürlich musste der Hersteller zwei Jahre lang Gewährleistungsfrist geben. Danach musste die Bahn für Reparaturen aufkommen. Alle die genannten und vermutlich noch einige weitere Mängel zu beheben dürfte deutlich teurer sein als die Fahrzeuge von Anfang an solider zu bauen. Siemens war mal der Mercedes der Eisenbahnbauer gewesen, aber das muss lange her sein🙁 Der Rhein-Ruhr-Express (RRX) in Nordrhein-Westfalen hatte seine 82 Desiros bereits anderthalb Jahre vor uns bekommen. Weil die nicht weniger Störungen hatten als unsere, hat Siemens quasi als Wiedergutmachung noch zwei Triebzüge kostenlos nachgeliefert! Zudem hat der RRX mit Siemens einen Wartungsvertrag abgeschlossen. Über 32 Jahre! Eine sehr optimistische Einschätzung der Lebensdauer😉 Auch bei uns waren immer mal wieder Siemens-Mitarbeiter unterwegs, die versuchten, die ständigen Störungen in den Griff zu bekommen (und ihre Kollegen aus der Entwicklungsabteilung vermutlich insgeheim verfluchen). Eine Sisyphusarbeit.

Warum sind die Fensterrahmen im Mireo mit Klettband befestigt?
Damit man sie leichter wieder anbringen kann, wenn sie herausgefallen sind
😉

Auf unruhigen Streckenabschnitten verwand sich schon mal der Wagenkasten, hörbar an den Knarzgeräuschen im Führerstand. Das klang etwa so wie ein Dachstuhl eines alten Holzhauses. In mehreren Desiros sind deswegen sogar Fensterscheiben zersplittert. Einer meiner Desiros hatte die Fehlermeldungen „Kühlung Haupttransformator ausgefallen“ und „Leistungsreduktion Umrichter“. Das sah man sogar von außen, weil das Kühlmittel namens Polyolester eine ganze Wagenflanke versaut hatte. Anders als Wasser trocknete die Soße nicht. Immerhin schien der Stoff nicht umweltschädlich zu sein. Kurz vor der Einfahrt in meinen Endbahnhof Karlsruhe fiel plötzlich ein Antriebsdrehgestell aus, und der Hauptschalter ließ sich nicht mehr einlegen. Ich musste den ganzen Zug komplett totmachen und wieder aufrüsten. Ankunftsverspätung 40 Minuten😧

Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass es bei der Konkurrenz kaum besser aussah. Die KISS-Doppelstock-Triebzüge von Stadler Rail, die unsere Kollegen vom Fernverkehr von der Wiener Westbahn übernahmen, fielen durch Zwangsbremsungen aufgrund von Softwarefehlern und ausgefallene Klimaanlagen auf. Außerdem hatten sie 42 Intercity-Doppelstockwagen von Bombardier bestellt. Nachdem sie die ersten 17 bekommen hatten, verweigerten sie wegen der vielen Störungen die Abnahme der fehlenden 25. Die Schweizerischen Bundesbahnen meldeten mit den gleichen Wagen die gleichen Probleme. Die ebenfalls brandneuen 1440er-Triebzügen von Alstom, die meine Kollegen von der Höllentalbahn fuhren, litten unter dem häufigen Kuppeln. Interessant der „Jojo-Tempomat“: Er bemerkte erst, dass er abschalten musste, wenn es zu spät war. Dann bremste er, bis er wieder unter der Zielgeschwindigkeit war, worauf er wieder beschleunigte, bremste, beschleunigte und so weiter und so fort😉

Weil der billigsten Anbieter beinahe automatisch den Zuschlag bekam, blieb die Qualität auf der Strecke. Im wörtlichen Sinn. Die Fahrgäste und wir mussten es ausbaden. Die Brücken der Römer hielten 2.000 Jahre, weil die Architekten vor der Freigabe mit ihren Familien eine Nacht unter den Bauwerken verbringen mussten. Hingegen müssen die Ingenieure, die unsere Züge entworfen haben, sie nicht fahren. Unsere Betriebswirte, die sie ausgesucht haben, und unsere Juristen, die die Verträge ausgehandelt haben, haben kaum einen Führerstand und vermutlich auch selten einen Fahrgastraum von innen gesehen.

Es ist ja nicht so, dass es für diese Situation keine Lösung gäbe. Beispielsweise wenn die Hersteller über die gesamte Vertragslaufzeit den vollen Service leisten, technische Störungen innerhalb genau definierter Fristen kostenlos beheben und eine Konventionalstrafe zahlen müssten, wenn aus technischen Gründen ein Zug sich verspätet oder ausfällt. Dann würden sie in ihrem eigenen Interesse solide und zuverlässige Züge bauen. Stattdessen ließ die Geschäftsleitung von DB Regio Südbaden gegenüber dem Betriebsrat verlauten (O-Ton): „Siemens hat ein aus unserer Sicht belastbares Programm vorgelegt, wie die Stabilisierung – insbesondere beim Mireo – vorangetrieben wird.“ Im Klartext: Es wird sich nichts ändern🙁

Ausstieg nicht möglich

Wenn wir Desiros in Doppeltraktion oder Mireos als Vollzüge fuhren, waren sie 210 m lang. Das war länger als mancher Bahnsteig. Je nach Bahnhof hing die Bahnsteiglänge auch noch vom Einfahrtgleis ab. Nun musste man natürlich wissen, wo man die hinteren Türen absperren musste. Beim Desiro musste man auch bei jedem Halt die Bahnsteighöhe kennen, damit bei den beiden Endwagen die richtigen Schiebetritte ausfuhren. Irgendwann waren in den Führerständen Listen mit den Daten aller Bahnsteige ausgehängt.

Richtung Norden ist Lahr interessant, Richtung Süden Emmendingen😉

Vor allem tagsüber waren sie recht gut lesbar😉

Beim Mireo war es nicht viel anders. An besonders kurzen Bahnsteigen wie Friesenheim oder Istein musste der ganze letzte von drei Mireos abgesperrt werden. Laut Weisung sollte man für das dritte Fahrzeug „Leerfahrt“ eingeben. Und man durfte vor dem nächsten Halt nicht vergessen, den Leerzug wieder umzukonfigurieren, weil die Fahrgäste sonst gefangen waren. Waren die Bahnsteige nicht ganz so kurz, reichte es aus, die letzten beiden Türen zu sperren. Hatte man das getan und kam vor dem Bahnsteig, beispielsweise an einem roten Einfahrtsignal, zum Halten, waren nach dem Anfahren wieder alle Türen freigegeben… Der kürzeste Bahnsteig war Kleinkems Richtung Norden mit 133 m. Ein Langzug aus zwei Mireos war 140 m lang. Zwar befanden sich die erste und die letzte Tür nicht direkt am Anfang bzw. Ende des Wagens, aber viel Platz zum Verschenken blieb da nicht. Sprich: Wer keine Punktlandung hingelegt hat, hatte ein Problem🙁

Kein Plan

Der Fahrplan ist das A und O beim Bahnfahren. Das heißt ohne durfte ich gar nicht erst losfahren. Unsere Fahrzeuge hatten den Fahrplan auf einem Computerdisplay. Er nannte sich offiziell „EBuLa“ wie „Elektronischer Buchfahrplan mit Langsamfahrstellen“. Das war etwas hochgestapelt, weil es trotz zweier Versuche nicht gelungen war, die Langsamfahrstellen (La) einzuarbeiten. Die LZB zeigte sie zwar an, aber die konnte bekanntlich jederzeit ausfallen.

Deshalb mussten wir die La jeden Tag aufs Tablet herunterladen, vor jeder Zugfahrt anschauen und während der Fahrt das Tablet aufgeschlagen auf dem Führerpult liegen haben. Hoffentlich mit geladener Batterie (und/oder Ladekabel). Weil es sich um ein simples PDF-Dokument handelte, lief die La nicht mit. Um immer den jeweils aktuellen Ausschnitt auf dem Schirm zu haben, musste man den Ausschnitt immer wieder von Hand weiter wischen. Weil der Bildschirm nach maximal einer halben Stunde von selbst abschaltete, was wir als Benutzer nicht ändern konnten, musste man daran denken, zwischendurch mal kurz draufzutippen, selbst wenn keine La-Einträge vorhanden waren. Dass das den Lokführer ablenkte, versteht sich von selbst☹

Während man auf dem Blattfahrplan, auf dem FIS-Bildschirm und in der La wie in einem Buch von oben nach unten fuhr, war es auf dem EBuLa umgekehrt: Man fuhr von unten nach oben. Er blätterte von selbst weiter. Grundsätzlich sah man so immer den aktuellen Ausschnitt. Er konnte jedoch bis zu 4 km hinterherhinken😲 Einmal realisierte ich erst, dass ich halten musste, als ich den Bahnsteig sah. Also eine Schnellbremsung eingeleitet, aber nicht mehr rechtzeitig ausgelöst, so dass der Zug mit einem kräftigen Ruck zum Halten kam, und zwar bereits vor dem Bahnsteigende. Das hieß, ich musste wieder mal vorziehen😧

Gemäß der untersten Zeile hatte ich 56 Minuten und 10 Sekunden Verspätung. Grund dafür war ein Personenunfall😧

Auf der Lok war der EBuLa GPS-gesteuert, wusste also, wo der Zug sich befand. Jedenfalls meistens. Auf der Schwarzwaldbahn mit ihren zahlreichen Tunnels konnte er schon einmal durcheinanderkommen. Er zeigte die aktuelle Verspätung an. War man dem Fahrplan ausnahmsweise einmal voraus, blinkte ein blaues Feld, und die Buchstaben „ESF“ leuchteten auf. Die standen für „energiesparendes Fahren“. Dann konnte man die Leistung abschalten und den Zug rollen lassen. Auf dem Steuerwagen war der EBuLa zeitgesteuert. Das war kein Problem, solange man pünktlich war. Kaum hatte man Verspätung, musste man jede Minute manuell eingeben.

Mir ist es mehrmals passiert, dass der Fahrplan wegen einer fehlenden DFÜ-Verbindung zum Funkserver nicht geladen hat. Für solche Fälle hatten wir das Tablet als Rückfallebene. Weil unsere Sparfüchse allerdings im schweizerischen Basel das Datenroaming abgeschaltet haben, klappte es da nicht. Einmal musste die Leitstelle den Ersatzfahrplan an die Meldestelle faxen. Das hieß, ich durfte vier Minuten vor der Abfahrt des Zuges vom Steuerwagen durch den ganzen Bahnhof und zurück hetzen. Ich kam gerade noch pünktlich los. Nur um an der nächsten Station vier Minuten vor einem roten Signal zu stehen☹ Ein Kollege riet mir, doch das nächste Mal den Buchfahrplan über das Bahnsteig-WLAN in Basel zu laden. Was natürlich nur klappte, wenn dieses funktionierte.

Ein paar Tage später kam es noch dicker. Das EBuLa-Display war dunkel. Ohne die Hilfe eines erfahrenen Kollegen, der zu derselben frühen Stunde (4.00 Uhr) am Nebengleis seinen Zug vorbereitete, hätte ich den Reset-Knopf im Inneren des Geräts nicht gefunden. Als es dann lief, bekam ich folgende Information:

Klarer Fall: Zugausfall. Oder?

Doch, die Zugnummer stimmte, und dasselbe Problem hatte ich mit meinem Anschlusszug. Es stellte sich heraus, dass DB Netze vergessen hatte, die Fahrpläne für einige Züge elektronisch zu hinterlegen, so dass die Leitstelle ihn diesmal auch nicht faxen konnte. Die Anweisung lautete, ich solle einen für eine andere Zugfahrt nehmen. Auf dem stimmten weder die Zeiten noch die Halte, weil ein Leerzug unterwegs nicht hielt, und noch nicht einmal die Strecke, weil der Fahrdienstleiter mich erstmals durch den 9 km langen Katzenbergtunnel lotste. So konnte ich immerhin einen Teil der Verspätung wieder aufholen. Laut LZB hätte ich 140 km/h fahren dürfen, aber ohne Streckenkenntnis wie in meinem Fall höchstens 100 km/h.

Das war gar nicht so einfach, weil der Fahrplan je nach Streckenabschnitt sehr eng getaktet war, wir ohnehin fast immer mit der vollen Leistung beschleunigten, die Höchstgeschwindigkeit nicht überschreiten und die 20 Sekunden Haltezeit am Bahnsteig nicht unterschreiten durften. Es blieben nur drei kleine Stellschrauben:

  • Die Höchstgeschwindigkeit auf Abschnitten, wo man den Zug rollen ließ, länger beibehalten.
  • Vor den Haltepunkten später, dafür stärker bremsen. Auf das Risiko hin, dass man zu früh, zu spät oder mit einem „Koffer“ zum Halten kam.
  • Normalerweise hoben wir zur Abfahrt nur die Türfreigabe auf. Wenn die Lichtschranken sechs Sekunden nicht unterbrochen wurden, liefen die Türen zu. Das konnte man durch Zwangsschließen abkürzen, was allerdings nur erlaubt war, wenn wir den ganzen Zug überblicken konnten, um sicherzugehen, dass keine Hundeleine eingeklemmt wurde, klappte also nicht an Haltepunkten in Linkskurven.

Technik, die begeistert

Die Bahn ist ja ein sehr techniklastiges Unternehmen. Und Technik kann immer mal ausfallen. Als wir von Freiburg losfahren wollten, war im gesamten Bahnhof wegen eines Gewitters der Strom ausgefallen. Ein andermal eine Oberleitungsstörung in der Nähe des Freiburger Hauptbahnhofs, den wir infolgedessen nicht anfahren konnten. So lernte ich die Umfahrung über den Güterbahnhof kennen.

Immer wieder fiel die LZB aus. Dann musste man beim Fahrdienstleiter einen schriftlichen Befehl zur signalgeführten Weiterfahrt einholen, wovon die ersten 2.000 m mit höchstens 40 km/h. Für die Fahrgäste bedeutete das jedes Mal eine Verspätung von zehn Minuten.

 „Sehr geehrte Fahrgäste, wegen einer technischen Störung verzögert sich unsere Weiterfahrt um einige Minuten. Vielen Dank für Ihre Geduld.“

Weil am Rhein hat einen neuen Bahnsteig bekommen. Dummerweise hatte unser Fahrgast-Informations-System davon nichts mitbekommen und beharrte stur auf „Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.“ Ein paarmal schob ich nach: „Ich korrigiere: Ausstieg in Fahrtrichtung links“, aber wenn es mir zu blöd war, sagte ich auch nur: „Nein links!“😊 Hatte ich gute Laune, klang es auch schon mal nach: „In Weil ist unsere automatische Ansagestimme immer etwas verwirrt. Der Ausstieg ist natürlich links.“ Meistens klemmte ich die Ansage ab und machte sie selbst, aber einmal ein paar Sekunden zu früh. Kaum war ich mit „Ausstieg in Fahrtrichtung links“ fertig, da kam die Stimme doch noch und behauptete das Gegenteil. Ich konnte mir „Grad tuen e s’Maul zue“ nicht verkneifen😊

Auf der Rückfahrt von Offenburg nach Freiburg Stellwerkstörung. 27 Minuten Verspätung😲 Einmal setzte uns der Fahrdienstleister eine allein fahrende Rangierlokomotive vor die Nase. Die hatte keine LZB-Ausrüstung, eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h und ein heißlaufendes Getriebe🙁 An einer Lok funktionierte nur ein Stromabnehmer. An einer anderen war ein Antriebssteuergerät defekt, so dass wir ein Drehgestell abschalten mussten und somit nur die halbe Leistung und weniger Bremskraft hatten…

Vor der Abfahrt stank es in unserer Elektrolok nach einem verschmorten Kabel. Also in aller Eile die Lok abgekuppelt, in die Abstellgruppe rangiert, von dort eine neue geholt und angekuppelt. Es war das Steuergerät der Klimaanlage. Die Werkstatt hat es noch am gleichen Tag repariert.

Unterwegs wieder ein liegengebliebener Güterzug. Wir durften ihn erst nach 15 Minuten umfahren, weil die Strecke gesperrt war, solange der Lokführer seine heißgelaufene Achse gesucht hat.

Nur wenige Kilometer weiter wollte und wollte das Signal nicht auf grün springen. Eigentlich hätte der Fahrdienstleiter uns anrufen müssen, was er aber nicht tat. Er hatte eine „Auflösungsstörung“, d.h. der Streckenabschnitt vor uns war ihm als belegt angezeigt, obwohl kein Zug darin hätte sein dürfen. Deshalb gab er uns einen Befehl, auf Sicht zu fahren. Ergebnis: 15 Minuten Verspätung.

Unsere Fahrzeuge waren ja eigentlich rollende Computer. Deswegen war auch unser Fahrhebel elektronisch. Und konnte ausfallen. Zusammen mit beiden Bildschirmen. Die kamen allerdings sogleich wieder, und nach einer Zwangsbremsung und mehreren Versuchen ließ sich auch der Fahrhebel reanimieren. „Nur“ vier Minuten Verspätung.

Wer hätte gedacht, dass mit „ZK-Steller“ der Fahrhebel gemeint ist? (ZK = Zugkraft) Und dass sogar dieser ausfallen kann?🙁

Ein frühes Highlight in meiner noch jungen Lokführerkarriere war meine erste Türstörung. In Rheinweiler, wo sich der Haltepunkt in einer Kurve mit schiefen Schienen befindet, wollte und wollte eine Tür nicht zugehen, so dass ich nicht losfahren konnte🙁 Ich also von der Lok ab- und in den Zug eingestiegen, innen auf den roten Knopf mit der Beschriftung „Zu“ gedrückt, und das Problem war gelöst. Dafür war ich jetzt ebenfalls im Zug gefangen und kam nicht mehr auf die Lok🙁 Mit dem Vierkantschlüssel öffnete ich die Stirnwandtür, kriegte aber den Klapptritt nicht gesenkt, so dass sie nur ungefähr ¼ aufging. Zum Glück bin ich schlank und konnte mich in einem akrobatischen Akt durchquetschen😲 An den folgenden Stationen musste ich die Türen ein paar Mal zwangsschließen, aber dann war die Störung von selbst wieder weg. 14 Minuten Verspätung.

Sieben Spezies von Passagieren

Nun fährt die Bahn ja nicht zum Vergnügen, sondern um Leute von A nach B zu bringen. Die Fahrgäste kann man grob in sieben Kategorien einteilen:

Erstens die dankbaren. Das waren die wenigsten, aber es gab sie. So wie den einen Mann, der sich nach dem Aussteigen in Köndringen einfach so für meine Zugfahrt bedankt hat😊 Oder die junge hübsche blonde Frau, die mir in Efringen-Kirchen einen schönen Abend wünschte😊 Als das Fahrgast-Informations-System, das die Haltestellen ansagen sollte, sich mal wieder weigerte, musste ich das wohl oder übel selbst übernehmen. Damit es nicht so langweilig wurde, habe ich die Ansagen etwas ausgeschmückt. In Müllheim kam eine Frau vor zur Lok und machte mir dafür ein Kompliment. Das kann einem den ganzen Feierabend versüßen😊 Beim Zugabschluss in Basel ging ich durch die Wagen, um zu schauen, ob alle Reisenden ausgestiegen waren. Waren sie, aber einer hatte sein Handy vergessen. Das klingelte auch sogleich, und der Besitzer kam wenig später bei mir vorbei und hat es abgeholt. 10 € Finderlohn für mich😊 In Rheinweiler sagte ein soeben ausgestiegener Herr, er würde uns (Lokführer) alle lieben, weil wir so einen guten Job machten, und bot mir ein Bier, wahlweise Red Bull an. Wenige Kilometer zuvor hatte ich aus Dummheit zwei Zwangsbremsungen produziert🙁 Aber sonderlich beschwipst wirkte er nicht😉 Weil das FIS nach einem Fahrplanwechsel die Ausstiegsseiten nicht mehr ansagte, machte ich es, und das gerne in einigen Variationen. In Offenburg wartete ein Herr auf dem Bahnsteig, bis ich ausstiegen war, und lobte mich dafür😊 In Kleinkems lief einer extra vor zur Lok, um mich für mein Engagement zu loben😊

Zweitens die normalen. Das war die große Mehrzahl. Eigentlich mussten wir froh sein, dass trotz aller Unannehmlichkeiten noch immer so viele Leute mit der Bahn fuhren😉 Immerhin bezahlten sie mit den Fahrpreisen unsere Gehälter.

Drittens die mobilitätseingeschränkten. Sie können nichts dafür, dass sie beim Aussteigen Hilfe brauchen. Fuhren wir Steuerwagen voraus, war das kein Problem, weil sich die Rollstuhlrampe direkt hinter dem Führerstand befand und wir somit kaum Verspätung machten. Fuhren wir aber (wie meistens) ohne Zugbegleiter Lok voraus, mussten wir den ganzen Bahnsteig entlang nach hinten zum Steuerwagen gehen und nach erfüllter Mission wieder den gleichen Weg nach vorne zur Lok. Unter fünf Minuten kam man nicht davon. Bei den neuen Zügen war es nicht besser, eher im Gegenteil.

Der Knopf für die Anforderung der Rollstuhlrampe war eigentlich für körperlich Behinderte gedacht. Trotzdem wurde er meist von geistig Behinderten gedrückt🙁 In unseren Desiros konnten wir im Stand den Innenraum über CCTV beobachten und schauen, ob es sich um einen tatsächlichen oder um einen Fehlalarm handelte. Zwar verfügten die Mireos ebenfalls über Kameras für die Fahrgasträume, nicht aber über Bildschirme im Führerstand. Diese wurden, wie so vieles, aus Kostengründen nicht bestellt. Deshalb mussten wir bei jeder Rampenanforderung nach hinten laufen. Besser gesagt gehen, weil wir nicht versichert gewesen wären, wenn wir im Laufschritt auf die Nase gefallen wären. Fuhr man mit einem Vollzug, waren das zweimal 200 m🙁 Ich überlasse es euch, die daraus resultierende Verspätung auszurechnen.

Viertens die dreisten. Es gab immer wieder Leute, die die Türen aufhielten. Oder denjenigen, der auf die Idee kam, mich über den Notruf zu fragen, ob er in Basel seinen Anschluss noch erreichen würde. Er war wohl mit demjenigen verwandt, der über Notruf wollte, dass ich meinen RE in Rheinweiler anhalte, weil das auf dem Plan stände. Nach der Zugnummer gefragt verwies er auf den Streckenplan, der im Zug hing und auf dem jeder kleine Haltepunkt aufgeführt war… Oder die beiden, die am „Black Friday“ in Freiburg einen großen Flachbildfernseher besorgt hatten und im übervollen Pendlerzug ausgerechnet vorne in den Steuerwagen eingestiegen waren. Nun blockierte das Gerät die Tür zum Führerstand, was den einen zur Bemerkung „Jetzt kann er halt nicht raus.“ veranlasste. Wir übernahmen den Zug, und ich konnte ihn davon überzeugen, dass der Zug nicht fuhr, wenn der Lokführer auch nicht hinein konnte😉

Fünftens die alkoholisierten. Die lassen sich ihr Essen gerne noch einmal durch den Kopf gehen, und zwar rückwärts🤮 Entsprechend stanken dann die Toiletten oder, noch schlimmer, die Wagen🙁 Beim Zugabschluss ging man immer durch den ganzen Zug, um zu schauen, ob alle Fahrgäste ausgestiegen waren. Wir fuhren bekanntlich mit Doppelstockwagen. An jenem Tag ging ich unten durch, warf aber natürlich auch einen Blick ins Obergeschoss, wo ich keine Beine sah. Also rangierte ich den Zug in Basel aufs Abstellgleis. Dort war Abrüsten angesagt. Ich kontrollierte gerade die Lok von außen, als plötzlich eine Wagentür aufging und ein dunkelhäutiger beschwipster Mann in gebrochenem Deutsch sagte, er hätte Wodka getrunken, sei eingenickt und hätte eigentlich in Müllheim (30 km vorher) aussteigen wollen😃

Sechstens die verwahrlosten. Manchmal waren sie zusätzlich betrunken. Einer war bei uns schon Stammgast. Einmal er war beim Zugabschluss eingeschlafen, so dass ich ihn wecken musste. Immerhin war er friedlich. Hingegen rief uns in Offenburg die Zugbegleiterin um Hilfe. Es ging darum, einen etwas Verwahrlosten mit Rollator auf den Bahnsteig zu befördern. Auf der gleichen Fahrt berichtete unser Planlokführer, dessen Einsatz wir fuhren und der hinten im Zug mitfuhr, dass ein Fahrgast randalierte. Die Bundespolizei sagte, sie bräuchte zehn Minuten, bis sie in Donaueschingen eintraf und den Alkoholiker, dessen Hosenladen offenstand, herausholte. Inzwischen war der Zug mehr als 20 Minuten verspätet🙁 Nicht alle Obdachlosen suchten Zuflucht in unseren Zügen. Manche auch draußen in den Bahnanlagen. Als meine Kollegen die nach verschmortem Kabel riechende Lok in Freiburg ins Betriebswerk rangierten, waren da Polizei, Feuerwehr und Notarzt mit Blaulicht. Es war eine leblose obdachlose Person gefunden worden🙁

Siebtens die lebensmüden. Die wiederum lassen sich unterteilen in psychisch Gesunde und weniger Gesunde. Obwohl die Übergänge fließend sind. Ich bin mir nicht sicher, ob der Jogger, der es gerade noch geschafft hat, vor meinem 120 km/h schnellen Zug (in einer Kurve!) über die Schienen zu kommen, im Kopf noch ganz richtig war. Ein Kollege erzählte mir, dass dunkelhäutige Einwanderer gerne mal die Gleise überquerten. Ich mochte das nicht so recht glauben, bis es am nächsten Tag tatsächlich einer direkt vor meinem Zug tat, als ich durch Kollmarsreute fuhr, weil er den auf dem Gegengleis stehenden Zug noch erwischen wollte😲 Ich habe natürlich gehupt, aber ich bin nicht sicher, ob ihn das von einer Wiederholung abhalten wird. Auch den beiden offenbar Besoffenen, die am Samstag Abend unmittelbar nach dem Aussteigen im Bahnhof Lahr dasselbe taten, hupte ich etwas und bedauerte nur, dass unser Lärmgenerator nicht noch lauter war.

Das Zentrum für Psychiatrie in Emmendingen war ein Schwerpunkt für Personenunfälle. Es genügte schon eine Suiziddrohung („Schrei nach Hilfe“), um den gesamten Verkehr lahmzulegen. Wenn es tatsächlich jemanden erwischt, wie einen betrunkenen Jugendlichen um 1.00 Uhr früh im Freiburger Hauptbahnhof, ist das Geschrei groß. Ein Güterzug hatte ihn erwischt. Für mich ein klarer Kandidat für den Darwin-Award. Umso interessanter, wie viele Leute die Schuld auf die Bahn schieben wollten, weil Güterzüge normalerweise (aber nicht immer!) die Strecke über den Güterbahnhof nahmen. Wo kämen wir da hin, wenn die Bahn entscheiden dürfte, über welche Gleise sie ihre Züge fahren ließ?

Nun überquerten nicht nur Leute die Gleise, sondern auch Tiere. Ein Kollege hatte ein Reh erlegt🙁 Auch mir geriet ein Tier unter die Räder. Es ging so schnell, dass ich es nicht erkennen konnte. Ich dachte, es sei ein Vogel gewesen, aber so wie die Knochen beim Drüberfahren knackten, war es wohl eher ein Kaninchen. R.I.P. Mehrere Spatzen verloren ihr Leben an der Front meiner Lok und meines Steuerwagens. Einmal eine Taube bei 110 km/h direkt vor meiner Nase🙁

Sicher ist sicher

Bei der Bahn gab es mehrere Zugsicherungssysteme. Da wäre zunächst die Sicherheits-Fahrschaltung zu nennen (Sifa, „Totmannschalter“). Man drückte ein Pedal und musste es alle 20 bis 30 Sekunden loslassen. Genau das Richtige für Leute mit dem Restless-Legs-Syndrom😉 Und alle Anderen bekamen es nach einiger Zeit😉 Tat ich nicht wie geheißen, erschien im Display ein Leuchtmelder. Falls ich immer noch schlief oder abgelenkt war, ertönte je nach Fahrzeug wenige Sekunden später ein Warnton, oder eine Lautsprecherstimme sagte „Sifa“. Spätestens jetzt musste ich reagieren, denn weitere zweieinhalb Sekunden später trat eine Zwangsbremsung ein. Der Zweck dieser Vorrichtung lag darin, den Zug automatisch zum Halten zu bringen, wenn der Lokführer einen Herzinfarkt erleiden sollte.

Das zweite System war die punktförmige Zugbeeinflussung (PZB). Sie wurde früher „Indusi“ genannt und ist Standard auf allen Strecken der Deutschen Bahn. Anders als im Straßenverkehr, wo man bekanntlich auf Sicht fährt, sind Züge im Raumabstand unterwegs. Das heißt, ein von einem Zug belegter Blockabschnitt kann im Regelbetrieb nicht von einem anderen Zug befahren werden. Ob ein Streckenblock frei oder besetzt ist, wird durch Signale angezeigt. Fahrzeug und Signal kommunizieren über große Elektromagnete. Vereinfacht gesagt musste ich jedes „Langsamfahrt erwarten“ oder „Halt erwarten“ zeigende Vorsignal mit der Taste „Wachsam“ bestätigen und anschließend eine Bremskurve unterfahren, das heißt einen Reisezug innerhalb von 23 Sekunden unter 85 km/h bremsen. War ich zu schnell, erfolgte – was wohl – eine Zwangsbremsung. Dasselbe galt, wenn ich versucht hätte, ein rotes Signal zu überfahren. Das ist überhaupt der größte Fehler, den ein Lokführer machen kann. Der Teamleiter verpasste einem einen Einlauf und schickte einen eine Woche in unbezahlten Urlaub🙁

Allerdings kann der Lokführer nicht immer etwas dafür. Auf einer unserer Ausbildungsfahrten dachte sich mein Kollege nichts Böses, als er zwischen Ottersweier und Achern mit 150 km/h an einem grünen Vorsignal vorbeifuhr. Theoretisch wäre es unmöglich gewesen, dass das 1.000 m weiter stehende Hauptsignal rot war. War es aber. Er konnte gerade noch „Ist das unser Signal?“ in die Runde fragen, bevor wir zwangsgebremst wurden😲 Arbeiter hatten an einem anderen Signal herumgebastelt und vermutlich den falschen Draht abgeklemmt… Deswegen war das Hauptsignal zurückgefallen.

Und dann gibt es noch den Fall, dass die PZB einen vor einem grünen Hauptsignal zwangsbremst. Das passierte immer dann, wenn es von rot auf grün oder zumindest grün-gelb wechselte, während man darauf zufuhr. Dann musste man trotzdem auf unter 25 km/h abbremsen, bis man am Signal vorbei war, weil der Magnet erst dann Entwarnung gab.

An meiner Strecke wurde immer irgend etwas gebaut. Irgendwann wurden neue Signale aufgestellt. Ich fand die alten eigentlich noch ganz gut, zumal es bereits moderne Licht- und keine altmodischen Flügelsignale mehr waren und wir sie ohnehin selten brauchten, weil wir dank LZB in der Regel anzeigegeführt waren (siehe unten). Eines der neuen Signale, das Ausfahrtsignal von Emmendingen Richtung Freiburg, war allerdings nicht ganz gelungen. Erstens stand es zehn Meter vor dem bisherigen. Genau diese zehn Meter war der Bahnsteig jetzt zu kurz, wenn wir mit zwei Desiros oder drei Mireos einen LZB-Halt hatten, weil man dabei 12 m vor dem Signal stehenbleiben musste. Deshalb mussten wir in diesem Fall die letzten beiden Türen absperren. Als ich einmal ohne LZB, also signalgeführt fuhr, suchte und suchte ich das Signal und entdeckte es erst, als ich schon fast stand. Es hatte sich hinter dem Bahnsteigdach versteckt😲

Auf der Leitung

Die linienförmige Zugbeeinflussung (LZB) baut auf der PZB auf und stellt davon eine Weiterentwicklung dar. Nur die Hauptstrecken sind damit ausgerüstet, erkennbar am Linienleiter zwischen den Schienen. Darüber stehen der Fahrdienst und der Zug ständig miteinander in Verbindung. Für mich als Lokführer war das sehr angenehm: Ich musste die Signale nicht mehr beachten, weil ich anzeigegeführt war. Das heißt, mein Display zeigte mir, wie schnell ich fahren durfte, und ab wann ich die Geschwindigkeit verringern musste. Die LZB hat den Vorteil, dass sie höhere Geschwindigkeiten und dichtere Zugfolgen ermöglicht (CIR-ELKE = Computer Integrated Railroading – Erhöhung der Leistungskapazität auf dem Kernnetz der Eisenbahn).

Nanu, bin ich etwa zu dicht aufgefahren? I wo, LZB CIR-ELKE macht’s möglich😉

Es kam immer wieder vor, dass man aus der LZB entlassen wurde und mit PZB, also signalgeführt, weiterfuhr. Von LZB-Ausfällen abgesehen tat sie das in schöner Regelmäßigkeit wenige Meter vor einem Signal. Wenn es ein Vorsignal war, das „Halt erwarten“ oder „Langsamfahrt erwarten“ zeigte, musste man auf der Hut sein, um die Wachsamkeitstaste schnell genug zu betätigen. Sonst hielt man schneller, als einem und den Fahrgästen lieb war😉

Grundsätzlich konnten die Fahrtbegriffe von PZB und LZB nicht voneinander abweichen. Als ich hörte, dass es ganz selten bestimmte Ausnahmesituationen gibt, wo aus technischen Gründen die LZB auf dem Display „Fahrt“ und die PZB mittels eines roten Signals gleichzeitig „Halt“ anzeigen konnte, hatte ich ein etwas mulmiges Gefühl. Erst recht, als mir meine LZB freie Fahrt anzeigte, aber das Vorsignal von Freiburg Richtung Leutersberg „Halt erwarten“.

Bremsen oder nicht, das ist hier die Frage😉

Beim ersten Mal habe ich vorsichtshalber gebremst, aber der Vorsignal-Wiederholer und das Hauptsignal waren grün. Vollends mysteriös wurde es aber, als mir meine LZB 120 km/h erlaubte, ich nichts ahnend mit 113 km/h zwischen Eimeldingen und Haltingen unterwegs war und plötzlich ein Lichterfest im Display losging: „Geschwindigkeitsüberschreitung“, „LZB-Übertragungsausfall“, „LZB-Störung“ und natürlich „Zwangsbremsung“. Einem Kollegen passierte an der gleichen Stelle genau dasselbe. Eine Störung an der Streckeneinrichtung. Nachdem ich das wusste, fuhr ich dort langsamer. Dann kam je nach Geschwindigkeit nur noch kurz „LZB-Störung“ oder „Zugbeeinflussung“.

Ich dachte mir auch nichts dabei, als der Fahrdienstleiter wieder einmal anrief, um mir mitzuteilen, dass ich nach Müllheim in die Überholung müsste, d.h. auf dem Ausweichgleis warten, bis ein ICE durchgerauscht war. Ich tat wie geheißen. Als es weiterging, wieder mal etwas ganz Neues: LZB-Störung, Zwangsbremsung, der Leuchtmelder „Ü“ für Übertragung blinkte, und die Störungsmeldung lautete „Keine KRST auf 430 m erkannt“ oder so ähnlich. Keine Ahnung, was das heißen sollte. Der Fahrdienstleiter erst recht nicht, und unsere Hotline war nicht erreichbar🙁 Vermutlich Kreuzungsstelle. Ich versuchte weiterzufahren, aber die LZB bremste mich erneut zwangsweise. Obwohl ich sie abschaltete, blieb sie aktiv😲 Also habe ich sie ganz ausgeschaltet. Zunächst konnte ich mit schriftlichem Befehl 2 km mit 40 km/h weitertuckern, wo ich normalerweise mit 140 Sachen durchsauste. Durch das Ausschalten der LZB vergaß der Zug seine Daten (Bremsart, Länge, Bremshundertstel und Höchstgeschwindigkeit), so dass ich in den Grunddaten fuhr. Bei blinkendem 55er-Leuchtmelder hieß das 55 km/h bis Heitersheim, weil man die Zugdaten nur im Stand eingeben konnte. Nachdem ich das getan und die LZB wieder eingeschaltet hatte, kam sie wenig später wieder. Aber dann Gegengleisfahrt bis Bad Krozingen mit Halt vor dem Einfahrsignal, damit mich der nächste ICE auf dem Regelgleis überholen konnte… Zuletzt 21 Minuten Ankunfts- und 15 Minuten Abgangsverspätung in Freiburg🙁

Und dann gab es noch den Fall, als ich keine Führungsgrößen hatte, also signalgeführt war, aber die Signale wie im LZB-Betrieb abgeschaltet waren… Das heißt, ich war im totalen Blindflug. Weit kam ich nicht, weil mich eine Zwangsbremsung 50 m vor dem Bahnsteig von Efringen-Kirchen zum Stehen brachte. Bis wir den Fehler gefunden hatten, mussten die Fahrgäste 102 Minuten ausharren😲 Es stellte sich heraus, dass der hintere meiner beiden Zugteile in der LZB-Übertragung war, der vordere, in dem ich saß, aber nicht.

Höhere Gewalt

Nun ist die Eisenbahn ja trotz allem sehr sicher. Aber niemand ist gegen alle Eventualitäten gewappnet. Wer rechnet schon damit, dass ein 140 t schweres Brückenteil direkt vor einem Güterzug auf die Schienen stürzen könnte? Der Lokführer-Kollege kam zu Tode und ein Mitfahrer wurde schwer verletzt, siehe https://www.badische-zeitung.de/gueterzug-kollidiert-mit-brueckenteil-lokfuehrer-stirbt-bei-auggen. Die Brücke bei Auggen hätte wenige Tage später ohnehin abgebrochen werden sollen. Sie lag an meiner Strecke, und ich war selbst schon hundertmal darunter durchgefahren. Das heißt, es hätte auch mich treffen können😲 Nur wenige Minuten zuvor waren ein ICE und einer unserer Nahverkehrszüge durchgefahren.

Nein, das war nicht auf unserer Modelleisenbahn!

Ich hatte zu dieser Zeit Urlaub. Danach war die Strecke fünf Tage gesperrt, und meine Schichten gingen fünfmal am Tag von Basel nach Schliengen und wieder zurück.

Spielball der Politik

Mit der Bahnreform von 1994 wurden die Deutsche Bundesbahn und die Deutsche Reichsbahn zur Deutschen Bahn vereinigt, in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und in die Unternehmensbereiche DB Fernverkehr, DB Regio, DB Cargo, DB Netze, DB Systel, DB Services, DB Energie, DB Fahrzeuginstandhaltung und andere gegliedert. Alleiniger Aktionär ist die Bundesrepublik Deutschland. Deshalb kann man schon nach dem Sinn fragen, dass einige Tochtergesellschaften wie DB Schenker und DB Arriva im Ausland tätig sind. Vor allem auch deshalb, weil die letztere hunderte von Millionen Euro pro Jahr verbrannte. Geld von deutschen Steuerzahlern🙁 Eigentlich sollte die Bahn an die Börse gebracht werden. Aber da kam die Finanzkrise dazwischen.

Nun stellte sich die Frage, was man mit den Bundesbahn-Beamten machen sollte. Sie konnten ja schlecht für eine Aktiengesellschaft arbeiten, und entlassen oder zu normalen Angestellten degradiert werden konnten sie auch nicht. Die Lösung: Sie wurden vom Bundeseisenbahnvermögen übernommen und werden von diesem quasi an die Bahn ausgeliehen. Neue Beamte werden seither natürlich nicht mehr eingestellt.

Durch die Aufspaltung der Bahn in die einzelnen Konzerngesellschaften konnte es nicht ausbleiben, dass diese ihre eigenen Interessen über diejenigen des Gesamtkonzerns stellten. Ich hatte in meiner Naivität gedacht, dass DB Energie den Stromverbrauch des Konzerns minimieren sollte. Weit gefehlt🙁 Die wollte möglichst viel Elektrizität verkaufen. So etwas wie eine Einspeisevergütung gab es nicht. Das führte dazu, dass DB Energie unsere beim Bremsen zurückgespeiste Elektrizität („Dreckstrom“) nicht zurückkaufte, sondern wir sie nur verwerten konnten, wenn eine andere Lok im gleichen Einspeisebereich gleichzeitig Strom verbrauchte.

Ich hätte es auch für sinnvoll gefunden, dass möglichst viele Züge den 9 km langen Katzenbergtunnel durchqueren würden, damit sich das 610 Mio. € teure Bauwerk lohnte. Nix da: DB Netze wollte die Trasseneinnahmen aus dem Tunnel maximieren. Ein „Familienrabatt“ für Konzernschwestern ist verboten, weil er andere Eisenbahnverkehrsunternehmen diskriminieren würde. Und DB Regio möchte lieber selbst eine strahlende Bilanz vorweisen als diejenige von DB Netze zu alimentieren. Auch wenn zu guter Letzt alles in demselben Topf landet. Deshalb mussten auch die meisten unserer bis zu 160 km/h schnellen Regio-Express-Züge, die zwischen Weil und Müllheim nicht halten, die alte, längere und langsamere Strecke aus der Dampflokzeit nehmen, auf der wir stellenweise nur 70 km/h fahren durften.

Für DB Regio Südbaden legt das Land Baden-Württemberg fest, wie viele Züge mit wie vielen Sitzplätzen auf welcher Strecke wann fahren müssen. Die verschiedenen Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) können sich dann für diese Strecken bewerben. Wer billiger anbietet, gewinnt. Auf den ersten Blick mag das sinnvoll erscheinen, aber es hat zwei große Haken:

  1. In meiner Gegend fuhr ja nicht nur die DB Regio, sondern auch die Südwestdeutsche Eisenbahngesellschaft (SWEG). Beide sind im Besitz der öffentlichen Hand. Der politisch gewollte Wettbewerb ist so gesehen eher künstlicher Art. Zumal man sich bei manchen Strecken hinter den Kulissen geeinigt hat, wenn die eine oder andere Gesellschaft gar nicht genügend Züge oder Personal gehabt hätte, um alle Strecken bedienen zu können.
  2. Die Qualität litt. Wenn die Hersteller nicht auf Teufel komm raus sparen müssten, hätten wir viele Probleme vermutlich gar nicht gehabt. Beispiele: die unzuverlässige LZB-Fahrzeugausrüstung EBICAB von Bombardier, die vielen Störungen der brandneuen Desiros und Mireos…

Die Bahn wusste bereits bei der Ausschreibung, dass das ehrgeizige Flügelkonzept auf dem Netz 9a (Breisach/Endingen – Gottenheim – Freiburg – Titisee – Seebrugg/Donaueschingen) nicht funktionieren würde, aber das Land wollte es so. Als es soweit war, hat es – Überraschung! – nicht funktioniert und musste geändert werden.

Damit die Züge möglichst pünktlich fahren, muss die Bahn dem Land eine Strafe bezahlen, wenn ein Zug Verspätung hat und die Bahn daran schuld ist. Fällt ein Zug aus, ist eine noch höhere Strafzahlung von 10.000 € bis 15.000 € fällig. Das führt paradoxerweise dazu, dass mehr Züge ausfallen. Warum? Weil ein verspäteter Zug Personal-, Trassen- und Elektrizitätskosten verursacht, ein ausgefallener aber nicht. Deshalb kommt es günstiger, einen verspäteten Zug gleich ganz ausfallen zu lassen. Ein klassischer Fall falscher Anreize.

Manchmal kann DB Regio gar nichts für die Verspätungen. Zum Beispiel wenn ein ICE (der vom Konzernbereich DB Fernverkehr betrieben wird) uns blockierte. Dann ging die Verspätung zwar nicht auf unser Konto. Aber die Abgangsverspätung des gleichen Zuges im Wendebahnhof schon, wenn er wegen des ICE’s zu spät angekommen war und deshalb nicht pünktlich zurückfahren konnte. Deshalb hat sich ein früherer Verkehrsminister und heutiges Vorstandsmitglied die nach ihm benannte „Pofalla-Wende“ ausgedacht: Ein verspäteter Zug, der am Endbahnhof wieder zurückfahren würde, wendet bereits vorher und ist plötzlich wieder pünktlich😉 Die Fahrgäste, die so ihr Fahrtziel erst mit einem späteren Zug oder gar nicht mehr erreichen, haben das Nachsehen🙁

Im Zuge des Klimawandels hat anno 2019 auch die Bundesregierung mitbekommen, dass die Bahn einen wesentlichen Beitrag leisten kann, und finanzielle Unterstützung von nicht weniger als 86 Milliarden Euro über zehn Jahre beschlossen. Das ist nur bedingt eine gute Nachricht, nämlich nur dann, wenn das Geld für die Anschaffung von zuverlässigem Rollmaterial, erhöhte Werkstattkapazitäten und die Beseitigung von Flaschenhälsen eingesetzt wird und nicht in schwarzen Löchern wie neuen unterirdischen Bahnhöfen verbuddelt wird.

Ebenfalls aus Klimagründen wurde beschlossen, die Mehrwertsteuer auf Fernverkehrsfahrkarten von 19% auf 7% zu senken. Bei Regio lag sie bereits auf dieser Höhe. So weit, so gut. Nur dass jetzt die Konkurrenz, beispielsweise Flixbus, sich benachteiligt fühlt.

Noch größer wurde die Ungleichbehandlung durch die Milliarden, die der Steuerzahler im Zuge der Corona-Krise in die Bahn einschoss. Das bedeutete nicht nur für die Konkurrenz auf der Straße, sondern auch für diejenige auf der Schiene (Flixtrain, Abellio, Go-Ahead, Transdev, …) eine krasse Wettbewerbsverzerrung.

Leidstelle und Fahrdienstleider

Ein Lokführer ist ja nur ausführendes Organ. Die Dienstpläne und die Fahrzeugumläufe legt die Leitstelle fest. Die Kollegen waren nicht zu beneiden, denn sie mussten sich tagein tagaus mit krankgemeldeten Lokführern und technischen Störungen an den Zügen herumschlagen. Aber auch im Regelbetrieb klappte nicht immer alles. Einmal sollte ich an einem kalt abgestellten Zug einen Lok-Reset durchführen. Eine tote Lok brauchte man nicht mehr totmachen😉 Dann sollte ich dasselbe an einem Zug machen, der gar nicht in unserem Bahnhof stand. Die Leitstelle wusste auch nicht, wo er war. Vielleicht hatte ihn jemand geklaut😉 Ein anderes Mal sollte ich meinen Zug nach der letzten Fahrt auf Gleis 246 abstellen, das lang genug für eine Lok mit vier Wagen war. Mein Zug hatte aber fünf. Zum Glück kannte der Fahrdienstleiter in Basel das Problem und stellte mir den Rangierweg auf 251. Als auf meinem Dienstplan „EKH“ für „Entkuppeln hinten“ stand, hing an meinen einteiligen Triebzug gar nichts dran, das man hätte abkuppeln können😃

Wenn man auf einer mit LZB ausgerüsteten Strecke mit PZB unterwegs ist, konnte es schon mal vorkommen, dass der Fahrdienstleiter einen vor einem roten Signal vergaß. Allerdings höchstens so lange, bis der nachfolgende LZB-geführte Zug auflief. In Bad Krozingen waren im Fahrplan bei manchen Zügen drei Minuten für Überholungen eingeplant. Aber nicht immer. Einmal stellte mir der Fahrdienstleiter die Weichen irrtümlich für das Ausweichgleis. Ich konnte zwar gleich weiterfahren, aber die LZB nahm es mir übel, denn sie bremste mich zweimal zwangsweise. Dann reichte es mir, ich habe sie abgeschaltet und einen schriftlichen Befehl für die signalgeführte Weiterfahrt eingeholt. Einige Kilometer später habe ich sie zwar wieder aktiviert, und sie funktionierte auch wieder, aber das änderte nichts an den zehn Verspätungsminuten.

Einmal stand in meinem Dienstplan eine Gastfahrt mit dem EC 8 nach Offenburg. Ich war froh, dass ich ihn in Basel noch knapp erwischt hatte. Nur hielt der nicht in Offenburg. Glücklicherweise fuhr an diesem Tag einer unserer Azubis mit mir, der mich telefonisch darüber informierte, so dass ich in Freiburg noch umsteigen konnte.

Die Krönung war freilich ein Anruf unseres Fahrdienstleiters, als ich nichts ahnend mit einem doppelten Desiro zwischen Heitersheim und Bad Krozingen unterwegs war. Nun muss ich etwas ausholen. Eisenbahnfahrzeuge sind sehr schwer. Damit sie trotzdem leicht rollen, sind die Achsen in Kugellagern geführt. Diese müssen deswegen sehr starke Belastungen aushalten. Sollte ein Achslager einmal trockenlaufen oder rosten, würde es sehr schnell sehr heiß werden und könnte leicht einen Brand entfachen. Deswegen haben wir an der Strecke Heißläufer-Ortungs-Anlagen (HOA’s). Besagter Fahrdienstleiter nun teilte mir mit, dass die HOA angezeigt hätte, dass meine 47. Achse heißgelaufen sei😲 Mein Zug hatte aber nur 32 Achsen. Ob mir da jemand etwas angehängt hatte?😉

Im Dreiländereck

„Meine“ Rheintalstrecke Basel-Offenburg als Teil der europäischen Haupttransversale Rotterdam-Genua ist völlig überlastet. Deshalb hätte sie bereits 2008 vierspurig ausgebaut sein sollen. Neuer Termin ist 2030😲

Wann die Sache fertig sein soll, schreiben sie nicht. Honni soit qui mal y pense😉

Dass es auch anders geht, zeigen die Schweizer: Sie haben bekanntlich den längsten Eisenbahntunnel der Welt innerhalb des gesteckten Zeit- und Kostenrahmens fertiggestellt. SBB, BLS & Co. können auch mit verschiedenen Loks in Doppeltraktion fahren, was bei uns nicht einmal bei zwei verschiedenen Serien der gleichen Baureihe klappte. Andererseits geben die Schweizer pro Kopf auch viermal so viel Geld für ihre Bahn aus wie unsereiner für die DB. Trotzdem fielen auch dort Züge wegen Lokführermangels aus. Und die neuen Doppelstock-Intercity-Wagen von Bombardier sind nicht nur mit zwei Jahren Verspätung gekommen, sondern auch mit jeder Menge Problemen.

Als ich einmal bei unserer Fahrdienstleiterin in Neuenburg, direkt an der elsässischen Grenze, vorbeischaute, verriet sie mir, dass die „Blauwale“ (das französische Pendant zu unseren 641er-Dieseltriebwagen) reihenweise wegen Antriebsstörungen ausfallen würden. Nachdem die SNCF die ersten Exemplare ihrer neu bestellten Regionalzüge bekommen hatte, stellte sie fest, dass sie zu breit für ihre Bahnsteige waren😃 Unser Ausbilder fuhr einmal mit einem elsässischen Kollegen von der SNCF. Letzterer sah zufällig seinen Dienstplan und traute seinen Augen nicht. Er meinte, wenn die französischen Lokführer solche Dienstpläne hätten, wäre am nächsten Tag im ganzen Land Generalstreik😲 Außerdem gingen unsere dortigen Kollegen teilweise bereits mit 55 in Rente😲 Langsam wird mir klar, warum die französische Wirtschaft nicht konkurrenzfähig ist😉 Und Griechenland pleite: Dort haben die U-Bahn-Fahrer so lange gestreikt, bis sie 90.000 € im Jahr verdient haben. Das haben natürlich auch die Kindergärtnerinnen, Lehrer, Krankenschwestern und Müllmänner mitbekommen und ebenfalls gestreikt…

Innovationen sind gefragt

Als Kind wollte ich Erfinder werden. Deshalb hatte ich auch schon die eine oder andere Idee, wie man Eisenbahnfahrzeuge verbessern könnte. Wenn man bedenkt, wie gering der Reibungswert zwischen Stahlrad und Stahlschiene ist, und wie viel Leistung so eine Lok auf die Räder bringt, wundert es nicht, wenn letztere bei Nässe gerne mal durchdrehen (im Fachjargon: schleudern). Dann ist Sanden angesagt. Aber auch das hilft nur begrenzt. Wesentlich eleganter wäre es, die Abwärme der Transformatorenlüfter beziehungsweise die Dieselabgase wie einen Heißluftföhn vor den Antriebsrädern auf die Schienen zu pusten, um diese zu trocken.

An den Bahnsteigen mussten wir mindestens 20 Sekunden lang halten, auch wenn in dieser Zeit niemand ein- oder ausstieg. Ich kenne keinen Kollegen, der jedes Mal die Stoppuhr hervorgeholt hätte, aber einer hat seinen Bewegungsablauf im Führerstand durch Herumgehen um den Sessel und ich weiß nicht was noch so gestaltet, dass er genau diese Zeit brauchte, bis er von der Türfreigabe durchs Fenster schaute, ob er sie zurücknehmen konnte. Wesentlich einfacher wäre ein TAV-Timer, der automatisch nach der Türfreigabe anfängt zu laufen und nach 20 Sekunden piepst (TAV = technisches Abfertigungsverfahren, unsere Türsteuerung).

Beim Aufrüsten einer kalt abgestellten E-Lok ist das erste immer zu schauen, ob sie unter dem Fahrdraht steht. Offenbar ist es bereits vorgekommen, dass die Maschinen mit gesenktem Bügel auf Oben-ohne-Gleisen gelandet sind. Wenn dann jemand den Bügel hebt, ist das Malheur passiert. Wenn man bedenkt, was unsere Züge alles für Vorsichts- und Sicherheitseinrichtungen haben, wäre ein Fahrdrahtdetektor kein Fehler😉

Oder ein Bahnsteig-Höhensensor, damit wir uns nicht auch noch Gedanken machen müssen, auf welchem Gleis an welchem Bahnhof beim Desiro welcher Schiebetritt ausgefahren werden muss. Technisch für einen Weltkonzern wie Siemens sicher ohne Probleme machbar, aber das kostet natürlich 24,95 € mehr🙁

Die Bahn will (noch) grüner werden. Und das im eigentlichen Sinne des Wortes, weil kein Glyphosat mehr eingesetzt wird, um die Gleise frei von Pflanzenbewuchs zu halten. An einigen Stellen hat die Vegetation bereits mit der Rückereroberung begonnen. Ich bin gespannt, wie lange es dauert, bis Wurzelwuchs die Schienen verbiegt. Dabei gäbe es ein einfaches Gegenmittel: Ein Mähfahrzeug mit mechanischen Sensen, das alle Strecken alle paar Monate abfährt.

Jetzt werden sogar unsere Trassen begrünt😉

Um Quietschgeräusche in engen Kurven zu dämpfen, hatten unsere Fahrzeuge eine Spurkranzschmierung mit Fett. Das musste erstens immer wieder nachgefüllt werden, bildete zweitens einen Schmierfilm auf den Schienen und war drittens auch noch umweltschädlich. Meine Idee war es, für die Spurkranzschmierung den Inhalt der Fäkalientanks quasi zu recyceln. Der ist biologisch abbaubar, und die Tanks wären nicht so schnell voll😉 Die Idee ist gar nicht so neu. Vor einigen Jahrzehnten gab es sie bereits, wenn auch weniger zielgenau. Damals nannte man das ganze Plumpsklo😃 Sehr zur Freude der Anwohner unter der Rendsburger Hochbrücke😉 Als es noch keine geschlossenen Toilettensysteme gab, musste die Bahn nach deren Beschwerden die Toiletten vor dem Befahren der Brücke von außen verschließen.

Unsere Abwässer ließen sich auch noch auf andere Weise wiederverwerten. Nämlich zur biologischen Schädlingsbekämpfung. Man bräuchte für jeden Wagen eine Pumpe und außen eine Sprinkleranlage über die gesamte Länge. Außerdem Sensoren, die auf Spraydosen reagieren und das System aktivieren. Es würde nicht lange dauern, bis auch der letzte selbsternannte Graffiti-Künstler am eigenen Leib erfahren hätte, dass er etwas Anrüchiges tut😃

Die Dreckskerle, die das getan haben, sollen sich verp…😉

Toi toi Toilette

Wenn ich schon beim Thema bin: Lokführer haben wie alle Menschen gewisse körperliche Bedürfnisse. Wer in einem Büro arbeitet, kann jederzeit die nächste Toilette aufsuchen. Bei uns ging das nur, wenn „Tätigkeitsunterbrechung“ oder „Ruhepause“ auf dem Dienstplan stand. Dann konnten wir die sanitären und die sonstigen Einrichtungen (Kaffeemaschinen, Fernsehgeräte, Mikrowellenöfen, Aufenthalts- und Ruheräume) unserer Meldestellen nutzen. Grundsätzlich jedoch musste unsereins seinen Wasserhaushalt unter Kontrolle haben. Zumindest für Männer soll es für Notfälle wohl Pinkelbeutel geben, aber keine Möglichkeit zum Händewaschen, und der ablösende Kollege berührt anschließend dieselben Hebel und Knöpfe😮 In meinem Beruf betreibt man oft genug unfreiwillig Beckenbodentraining😉

Normalerweise haben wir an den Wendebahnhöfen ein paar Minuten Standzeit, um solche Probleme zu lösen. Zwar versuchte ich stets, die Zugtoiletten so gut es ging zu vermeiden, aber oft gab es keine andere Möglichkeit. Dann verwendete ich zumindest Desinfektionsspray, um den Ekelfaktor zu minimieren.

Es wurde die vermutlich wahre Geschichte von einem Lokführer erzählt, der keine andere Möglichkeit mehr sah, als einen Bahnsteigaufenthalt zu verlängern, um sich auf einer Toilette im Zug zu erleichtern. Wenn von vier Wagen die Toiletten in den ersten drei gestört oder besetzt sind, konnte es schon mal vorkommen, dass man bis zum letzten Wagen laufen musste. Der Zug fuhr so natürlich mit Verspätung weiter, woraufhin der Fahrdienstleiter anrief und den Grund wissen wollte. „Der Haupttransformator auf der Lok war umgefallen, und ich musste ihn wieder aufstellen.“😃 Worauf der Anrufende ohne weiteren Kommentar auflegte.

Auf einer meiner Ausbildungsfahrten nach Offenburg hatten wir bereits zehn Minuten Verspätung, so dass ich durch den ganzen Zug ging, bereits in Lahr durch die hinterste Tür aus- und in die Lok einstieg, um sie in Offenburg sofort nach der Ankunft für die Rückfahrt vorzubereiten, während mein Kollege am anderen Ende noch mit dem Abrüsten des Steuerwagens beschäftigt war. Dank dieser „Blitz-Wende“ kamen wir zwar pünktlich weg, aber für einen Toilettengang des Kollegen hatte es natürlich nicht mehr gereicht. Er überlegte, ob er auf dem hinteren Führerstand in seine Flasche oder während der Fahrt durch die offene Tür hinauspinkeln sollte… Das Problem gelöst hat der „berühmte“ Busch auf dem Bahnsteig in Denzlingen, bei dem wir immer anhalten und hinter dem mein Kollege kurz verschwand. Es dauerte weniger lang, als wenn der Haupttransformator umgefallen wäre😉

„Kein Job wie jeder andere“

Der ICE sollte nicht so dicht auffahren. Der Lokführer im Mireo genießt die Aussicht auf das Winterwunderland😉

Ich genoss es, auf dem besten Platz durch die sonnigste Gegend von ganz Deutschland zu gondeln, das schöne Oberrheintal zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten zu sehen und das Gefühl zu haben, etwas Sinnvolles zu tun. Es wurde nie langweilig. Manchmal erlebte man schöne Überraschungen, wo man sie am wenigsten erwarten würde. Zum Beispiel das kleine Feuerwerk, das der Stromabnehmer bei Dunkelheit und Frost an der vereisten Oberleitung produziert😊 Oder das stimmungsvolle Bild mit den dazu passenden Signalfarben, das sich mir kurz vor der Einfahrt in Haltingen bot (ganz oben).

Wenn wir schon nicht die Welt bewegen, dann wenigstens die Zukunft😉

Während die Fahrgäste nicht viel Gutes über die Bahn sagen können, kann ich nicht viel Schlechtes sagen. Wer flexibel, zuverlässig, pünktlich, verantwortungsbewusst und sicherheitsbedacht ist und kein Problem mit der Technik und dem Alleinsein im Führerstand hat, für den ist Lokführer ein Super-Job. Und die Bahn ein guter Arbeitgeber. Bei der Mitarbeiterbefragung 2020, an der sich 58,5% der 340.000 Deutschbahner beteiligt haben, kam ein Durchschnitt von 3,8 von maximal 5 heraus. Das war der bisherige Bestwert😊

Der aufmerksame Leser wird es bemerkt haben: Ich habe meist die Vergangenheitsform gewählt. Ich bin zwar noch immer Lokführer, aber nicht mehr für die Deutsche Bahn. Fortsetzung folgt😉